#Sachbuch

"... wie auf wunden Füßen"

Regina Schaunig

// Rezension von Kurt Bartsch

„Woher“, so die bange Frage der jungen Ingeborg Bachmann im Gedicht Ich frage aus dem Jahr 1945, „woher“ rührt das „Lastbewußtsein“, das ihre Texte von eben den frühen Gedichten bis zum Todesarten-Komplex prägt? Die Standard-Antwort der Bachmann-Forschung verweist auf jene Äußerung der Autorin im Interview mit Gerda Bödefeld vom Dezember 1971, derzufolge in einem „bestimmten Moment“, dem „Einmarsch von Hitlers Truppen in Klagenfurt“ ihre „Kindheit zertrümmert“ worden sei durch die erinnerungsauslösende Erfahrung „ungeheure[r] Brutalität“ (I.B., Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews, S. 111).

Ob Ingeborg Bachmann nun tatsächlich am Tag des Einmarschs diese Erfahrung gemacht hat (oder in der Zeit danach) oder ob sie (der Erinnerung von Mutter und Schwester zufolge) im Spital gelegen oder (so der Bruder, wenig wahrscheinlich) auf Skiurlaub gewesen ist, erscheint eher nebensächlich. Wichtig ist vielmehr, dass die Autorin sich von diesem Datum herzuschreiben behauptet. Insofern ist die angesprochene Antwort sicher nicht falsch, wenngleich sie mutmaßlich, so Regina Schaunig in der vorliegenden Monographie nicht die ganze Wahrheit trifft. Die Verfasserin geht in der zentralen These ihrer Abhandlung, die sie nicht als Biographie, vielmehr als „Streiflichter durch Leben und Werk“ (13) verstanden wissen will, davon aus, dass Ingeborg Bachmann in früher Kindheit Opfer eines sexuellen Missbrauchs innerhalb der Familie geworden sei. Mit Sicherheit lässt sich das nicht behaupten, unterliegen doch Dokumente wie Briefe und Tagebuchaufzeichnungen aus dem Nachlass noch bis Ende 2025 einer Sperre. Schaunig macht aus diesem Manko kein Hehl, glaubt aber im Blick auf die frühen Texte, die eine der Bachmann-Forschung, insbesondere Hans Höller nicht verborgen gebliebene Nähe zum Todesarten-Komplex erkennen lassen, Plausibilität für ihre These gewinnen zu können.

Durchgehend thematisiert die Autorin „Alltagsfaschismus“ als leidvoll gemachte Erfahrung, „möglicherweise“ ausgelöst durch innerfamiliäres Erleiden von „zunehmender Gewaltbereitschaft und Aggression“ des Vaters, „eines früh bekennenden Parteigängers der NSDAP“ (135). Schaunig meint, dass der Roman Malina „vielleicht auch“ erkennen lasse, wie es ist, mit einem bekennenden Nationalsozialisten in einem Familienverband zusammenzuleben“ (152). Aufgrund der Quellenlage sieht sich die Verfasserin zum häufigen Rückgriff auf die Modaladverbien „möglicherweise“ und „vielleicht“ gezwungen. Abgesehen vom Hinweis auf das literarische Bild des die Tochter vernichtenden Vaters im Traumkapitel von Malina – selbstverständlich nicht eins zu eins gleichzusetzen mit dem realen Vater -, führt Schaunig eine Interviewäußerung von Bachmanns Schulkollegin Melanie Pichler ins Treffen, derzufolge sich die Turnlehrerin Liesl Schrott „angeblich“ an eine Diskussion im Konferenzzimmer „über einen (möglichen?) sexuellen Missbrauch Ingeborg Bachmanns durch ihren leiblichen Vater“ (184, Anm. 196) erinnerte. Inzest, immer wieder in Bachmanns Texten angedeutet – Schaunig verweist vor allem auf den Aufschrei wegen „Blutschande“ in Malina und die daraus resultierende „Todesangst“ (zit. nach 55), ist ein Tabuthema und fordert das Mauern gegen außen, das Schweigen über innerfamiliäre Unrechtszustände. Gestörtes „Sprechvermögen“ (23) – symptomatisch für Missbrauchsopfer -, Verschweigen und das diesem entgegengesetzte Ringen um die „verschwiegene Erinnerung“, sind u. a. in Malina zentrale Themen (150). In Bachmanns Privatbibliothek findet sich das von Marguerite Sechehaye herausgegebene Tagebuch einer Schizophrenen, das „durchsetzt von Bildern und Motiven“ (60) ist, wie sie sich bei Bachmann finden. Und es lassen sich bei der Autorin typische Verhaltensweisen sexuell missbrauchter Frauen finden: Schulkolleginnen bezeichnen sie als zurückgezogene „graue Maus“, beinahe beleidigend distanziert, aber auch „ehrgeizig“ (61) und talentiert im Kontaktknüpfen mit maßgeblichen Männern. Auch in den zu beobachtenden Stimmungsschwankungen der Autorin je nach literarischem Gelingen sieht Schaunig eine Folge der Traumatisierung. Eindrucksvoll zeigt sich dies an zwei 1945 entstandenen Gedichten. Einem euphorisch „jubelnden“ (zit. nach 105) lyrischen Ich in Die schöne Nacht steht in Depressionen eines entgegen, das zu „verstummen“ (zit. nach 106) droht.

Nicht erst im Todesarten-Zyklus, vielmehr bereits in den frühen Texten schlägt sich die Traumatisierung in zum Teil krassen Bildern nieder. Die interpretatorischen Annäherungen Schaunigs an die Gedichte und die erzählende Prosa der vierziger Jahre tragen zweifelsfrei zur Plausibilisierung ihrer These bei, überzeugen aber insgesamt durch die intensive Befragung der Metaphorik der Gedichte, denen die unauslöschliche Traumatisierung eingeschrieben ist. Es sind Bilder der Kälte, des Schattens, der Einsamkeit wie etwa im Gedicht Ängste, von dem sich ein Bogen zu Malina schlagen lässt. Entgegengesetzt sind ihnen solche von Sehnsucht nach Wärme, Sommer, Licht und dem geradezu übermächtigen Wunsch nach Entfliehen geprägte.

Für die jugendliche Ingeborg Bachmann war zweifellos der vom Vater hergestellte Kontakt zum Kärntner Heimatschriftsteller und Professor an der Klagenfurter Lehrerbildungsanstalt Josef Friedrich Perkonig von Bedeutung. Dieser Autor, wie der Vater bereits illegaler Nationalsozialist in der Zeit des austrofaschistischen Ständestaats und nach dem Anschluss aktiver Funktionär im nationalsozialistischen Literaturbetrieb, stand „Pate“ für die Titelgestalt der Briefe an Felician. Aus seinem Roman Bergsegen hat die Autorin den Namen Felician übernommen, er könnte „möglicherweise den intertextuellen Hintergrund der Briefe“ (84) darstellen – das wäre genauer zu verfolgen, indem dem von Schaunig beobachteten „sprunghaften Wechsel der Identitäten des schreibenden Ichs“ (86) nachgefragt wird. Jedenfalls war Perkonig für Bachmann wie für andere junge Menschen, die sich schriftstellerisch beweisen wollten, als Mentor wichtig, der sich intensiv auf die unterschiedlichsten literarischen Versuche eingelassen und sowohl durch Ermunterung wie Kritik nicht nur zur literarischen, vielmehr auch zur Entwicklung der Persönlichkeit seiner Schützlinge beitrug. Zeitweise glorifizierte ihn die Dichterin und ließ sich wohl auch beeinflussen wie in der Erzählung Das Honditschkreuz, die allerdings schon eine leichte Distanzierung erkennen lässt. Mit ihrem Weggang aus Klagenfurt zum Studium bricht der Kontakt ab.

Literarisch bedeutsamer als die Begegnung mit Perkonig war für Bachmann zweifelsohne die allerdings von ihm als ihrem Deutschprofessor an der Lehrerbildungsanstalt wohl auch geförderte Auseinandersetzung mit den Klassikern der deutschen Literatur, mit dem geradezu als göttlich verehrten Goethe, mit Schiller, dessen Freiheitspathos sie ebenso faszinierte wie Hölderlins Vorstellung von der Inspiration durch „himmlisches Feuer“ (105). Im schöpferischen Akt sucht die junge Autorin Freiheit. Sie strebt nach dem vollendeten Kunstwerk und nach Wahrheit. Schaunig zitiert das Gedicht Schranken aus dem Jahr 1944, in dem der Dichter appellativ (wie in der späteren Lyrik aus dem Band Die gestundete Zeit) auf Wahrheitsfindung eingeschworen wird (vgl. 136). Nicht nur in ihren literarischen Werken zeigt sich aber Ingeborg Bachmann schon sehr früh „unangepasst“ (104), widerspenstig und um Freiheit ringend. So besuchte sie heimlich mit zwei Mitschülerinnen privat verbotenen, explizit als Widerstandsakt verstandenen Englischunterricht und weigerte sich an Aktivitäten des BDM teilzunehmen. Man erfährt in Schaunigs Ausführungen einiges darüber, insbesondere aus ihren Gesprächen mit Schulkolleginnen von Bachmann, die im Anhang des Buchs abgedruckt sind. Dort finden sich auch Perkonig betreffende, seine Nazi-Vergangenheit beschönigende „Dokumente aus dem Kärntner Landesarchiv“ sowie ein Interview mit Magdalena Pfabigan, geb. Lipusch, die vom Reichsarbeitsdienst der Familie Bachmann als Magd zugewiesen war und entsprechend ausgenützt wurde: Die Familie Bachmann einschließlich Ingeborg also auch als Nutznießerin der politischen Verbindungen des Vaters.

Schaunigs zentrale These, dass die Traumatisierung Ingeborg Bachmanns ihre Ursachen in einem innerfamiliären sexuellen Missbrauch habe, erscheint keineswegs an den Haaren herbeigezogen, Gewissheit gleichwohl wird sich möglicherweise, vielleicht nach der endgültigen Öffnung des Nachlasses der Autorin in einem Jahrzehnt gewinnen lassen, so dass es dann nicht mehr der Mutmaßungen, mithin auch keiner Häufung von Modaladverbien bedarf.

Regina Schauning „…wie auf wunden Füßen“
Ingeborg Bachmanns frühe Jahre.
Klagenfurt/Celovec: Heyn, 2014.
256 S.; geb.
ISBN 978-3-7084-0525-4.

Rezension vom 27.09.2015

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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