374 Kilometer vom ehelichen Heim im Jupiterweg 7 entfernt, nimmt Karls Glücksforschung ihren Ausgang. „Wer unsere Gesellschaft verstehen will, muss Fragen stellen“, so Karls Überzeugung. Und diese verfolgt er so bedingungslos, dass er sogar seine Frau Margit, mit der er bisher ein beschauliches Leben geführt hatte, ohne Vorankündigung zuhause zurücklässt. Zehn Leute an zehn verschiedenen Orten zu befragen, ist Karls anfängliches Vorhaben, um das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl an Menschen“ zumindest als Möglichkeitsform auszuloten: „(I)ch werde herausfinden, woher diese Unzufriedenheit kommt, die Angst, die manche in die falsche Richtung treibt.“ Dem ritualisierten Tagesablauf samt überlangen Vormittagen und der „Angst, vor dem, was kommt“, will Karl mithilfe der Glücksforschung kontern und so bezieht er kurzerhand in Zimmer im chronisch unterbelegten Gasthof, in dem die namenlose und um keinen Ratschlag verlegene Wirtin samt ihrer Hündin Annemarie das Sagen hat. Aus den anfänglich geplanten zwei Wochen werden schnell mehr und Karls Vorhaben lässt sich nur schleppend voranbringen: Nicht nur, dass es eine Herausforderung für sich darstellt, passende Interview-PartnerInnen aufzutreiben; Die Befragungen selbst geraten für Karl rasch zur kommunikativen wie existentiellen Herausforderung. So bleiben weitere Reiseziele seiner Forschungsreise pures Konzept und Karls Standort pendelt sich bei 374 Kilometern Entfernung vom Heimatort ein – ein Symbol der Stagnation, das Anna Weidenholzer in Form von wiederkehrenden und gleichbleibenden Kapitelüberschriften auch auf formaler Ebene kenntlich macht.
In einer Rückblende folgen die LeserInnen nunmehr Karls verworrenen Wegen auf der Suche nach dem Glück. Dass er sich dabei selbst am meisten im Wege steht, machen die Erzählperspektiven, die Weidenholzer für „Weshalb die Herren Seesterne tragen“ gewählt hat, deutlich: Eine Kombination aus Ich-Perspektive, auktorialer und personaler Erzählsituation gewährt unterschiedlich gelagerte Einblicke in die das Innen- und Außenleben des Protagonisten. Oft innerhalb eines einzigen Satzes wechselnde Perspektiven und Figurenreden intensivieren dieses breite Blickspektrum und die Vielstimmigkeit der Erzählung noch zusätzlich. Während Karl sich auf seine Gegenüber zu konzentrieren versucht, ist das Lesepublikum hingegen ganz nah an ihm dran. Während die Befragten – ihrem Geschlecht folgend schmucklos als F1 oder M2 bezeichnet – ihren Kürzeln entsprechend kaum an Kontur gewinnen, liegt das Hauptaugenmerk erzählerischer Darbietung klar auf der Figur Karls. Die anfänglich zu beforschenden Gegenüber geraten so vom scheinbaren Zielobjekt des Begehrens zu Antagonisten mit Katalysatorenfunktion. Schritt für Schritt bringen sie Karls skurrile und einsame Lebenswirklichkeit(en) zum Vorschein. Manchmal mag man als Lesende/r Mühe haben, angesichts der dargebotenen Fülle an Stimmen und Stimmungen auf die lapidare Erzählachse der (wenigen) Ereignisse zurückzufinden. Aber dem ist entgegenzuhalten, dass Weidenholzer ihrem Publikum diese Kombinationsleistung durchaus bewußt zumutet – und das ist gut so.
Es ist weit mehr als stilistische Programmatik, wenn die Autorin mitunter in nur einem Satz verschiedene Erzählperspektiven miteinander kombiniert und Figurenreden ohne zusätzliche Kenntlichmachung in den Erzählfluss integriert werden: Die Grenzen zwischen Selbstgespräch, erinnerten Gesprächen und imaginären Konversationen mit „seiner Margit“, die stellenweise auch die Stimme seines Gewissens zu sein scheint, sind fließend und stehen allesamt für Karls überbordende Innenwelt, die ihn mitunter daran hindert, mit den ihn umgebenden Mitmenschen gelingend in Kommunikation zu treten: „Karl, würde Margit sagen, pass auf, dass du die Leute nicht verschreckst. Margit, sorge dich nicht. (…) Margit, werde ich sagen: Wie einsam man unter Menschen ist, die zusammengehören. Ich werde hier solange sitzen bleiben, bis es kalt genug geworden ist, hineinzugehen.“
Anna Weidenholzers filigranes und klug komponiertes Stimmengeflecht will „die Erfahrungen der Menschen zum Sprechen bringen“, ein auch in der Soziologie fest verankerter, emanzipatorischen Anspruch, der in der Befragungstechnik des qualitativen Interviews seine methodische Entsprechung findet. Ebendieser wiederum kann Karl im Zuge seiner Bemühungen aber immer weniger abgewinnen: „Margit, ich werde mich nicht mehr an den Fragebogen halten, es ist wichtiger, was rundherum passiert. Dunkelbraune Haare, der Ansatz etwas heller, der Scheitel ist gerade in der Mitte gezogen, die Frisur bis zu den Ohren lang. Was schreiben Sie da?, hört er M2 fragen, er antwortet nicht. Was möchten Sie wissen, fragt M2. Alles, sagt Karl, alles, was Ihnen wichtig ist.“
Weidenholzers Roman lenkt den Blick auf Menschen in scheinbar unscheinbaren Lebenswirklichkeiten abseits turbokapitalistischer urbaner Ballungsräume. Nicht, dass Mikrokosmen wie diese von den voranschreitenden gesellschaftlichen Veränderungen verschont blieben; Doch erlauben genau jene zeitliche Verschiebung in den Entwicklungen als auch die Fokussierung auf die kleinen Dinge des Alltags, die Weidenholzer gewählt hat, eine anders gelagerte Wahrnehmung. Dazu kommt, dass die Autorin nicht nur versucht, an den Stimmen sogenannter „kleiner Leute“ dranzubleiben, sondern ihren Blick vor allem auf jene richtet, die ihr altersmäßig eine Generation voraus sind. Diese Art von Auswahl und Hinwendung ist in Weidenholzers Fall nicht nur eine Frage politischer Haltung, sondern auch eine der literarischen Form. Anstatt in sozialromantische Klischees und entblößende Szenarien des Ausstellens abzugleiten, bergen die hier nachzulesenden ‚Lebensweisheiten‘ nicht nur humoristische oder politische Pointen, sondern zuallererst Respekt vor den vielen verschiedenen Blickwinkeln und Sichtweisen, mit denen wir unsere Umwelten zu erschließen versuchen. Nicht genug, Anna Weidenholzer webt in all dies eine bemerkenswert schlichte Poesie ein, die fernab von überdrehter Bemühtheit angesiedelt ist: „Sternwinden, Duftwicken und Hortensien, nicht alle Pflanzen gedeihen gleich. Das mag am Wetter liegen, der Erde oder der Düngung, ich weiß es nicht. Wir düngen wenig, den Kaffeesatz bekommen sie und manchmal die Reste unserer Fingernägel, Flüssigdünger ist nur für die Märkte gut, sagt Margit, meine Frau.“ Nach ihrem erfolgreichen Vorgängerroman Der Winter tut den Fischen gut (2013) treibt Weidenholzer ihre Bearbeitung vernachlässigter literarischer Topoi solide und zielstrebig voran: An die Stelle der arbeitslosen kaufmännischen Angestellten Maria ist nun die schräge, im Grunde höchst einsame Idealisten-Gestalt Karls getreten. Weidenholzer hat Menschen wie ihn nicht vergessen. Und zum Glück gibt es sie beide! Warum die Herren Seesterne tragen fordert mitunter auch die Geduld seines Publikums ein: Beim Lesen des Romans, aber auch beim vierjährigen Warten auf dessen Erscheinen. Die in Wien lebende, oberösterreichische Autorin erweitert ihren literarischen Handlungsspielraum hier konstant und sie tut dies mit der passenden Mischung aus Überlegtheit und Einfühlungsvermögen sowie dem dazugehörigen formal-ästhetischen, sprachlichen Instrumentarium.