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Werkausgabe

Jura Soyfer

// Rezension von Martin Kubaczek

Ilse Aichinger ist eine skeptisch-genaue Beobachterin: Soyfer habe nicht die Zeit gehabt eine Begrifflichkeit zu entwickeln für das, was um ihn und in ihm geschah, aber sehr wohl die Fähigkeit der sensiblen Wahrnehmung und des Beobachtens. Wenn Soyfer in einem Brief unmittelbar nach seiner Freilassung aus dreimonatiger Untersuchungshaft schrieb, „etwas fürchterlich Komisches“ sei ihm passiert, so meint Aichinger: Mit Komik könne man dem Geschehen nicht ankommen.

Ildi Ivanijs Wetten am Tor, ein Beispiel an sogenannter Bewältigungsliteratur, wo das Geschehene niemals mehr bewältigt werden kann, gewinnt seine atemberaubende Kraft gerade durch die Groteske, die in Zynismus zu kippen droht; wie aber soll man hier noch von adäquaten ästhetischen Kategorien sprechen, wenn sich die erfahrene und beschriebene Realität derartig außerhalb des Minimalkonsensus des Humanen stellt? Ivanij beschreibt das KZ-Lagerleben aus der Perspektive einer Elfjährigen. Sie heroisiert nicht, sondern zeigt die verschiedenen Überlebensstrategien, wovon eine das Wetten ist auf den, der als nächster stirbt, die andere aber das Singen und Theaterspielen innerhalb des Todeszauns. Ruth Klüger memorierte als Jugendliche im KZ Goethe-Gedichte, erdachte eigene und fand so in einer Situation jenseits des Vorstellbaren Halt an der Form. Dies alles half die Zeit zu überleben, die einem noch blieb, das eine sarkastisch und unter Abwehr von Gefühlen, das andere unter vollem Bewusstsein der Situation. Hat Soyfer mit seinem Beharren auf der „furchtbaren Komik“ nicht bloß eine Rettungsstrategie verfolgt, eine des Beharrens auf dem Eigensinn, aber auch mit der „Flucht“ in das „Komische“ vor der Absurdität des Grauens? Aichinger urteilt hier aus der Zeit danach, aus der Zeit der Überlebenden, die sagen können: das war nicht adäquat. Aber darum ging es für Soyfer ja auch nicht, im Gegenteil: er wollte mit dem „komisch“ noch bis zuletzt die ihm Nahestehenden schonen.

Celans fugatisches Gedicht über den Meister aus Deutschland hier, Soyfers Lied von der Erde da, das waren die zwei Pole, zwischen denen sich für viele meiner Generation die Wahrnehmung von Faschismus und Nazizeit spannte. Dazwischen eingelagert befand sich, nüchtern und präsent, Jandls schtzngrmm. Celans Gedicht ist nach dem Krieg entstanden, als Reaktion auf das Geschehene. Soyfers Texte vorher. Celans Gedichte sind in diesem Sinn retrospektiv, Soyfers Texte prospektiv. Celan schrieb von den Tätern und den Toten, Soyfer von den Tätern und den Lebenden.

Sieht man es so, dann ist Soyfers Kometen-Song, wie das Lied auch heißt, zukunftsweisend, weil appellativ. Sein Optimismus ist flehentlich, zugleich aber nicht naiv, sondern bewusst beharrend auf den positiven Möglichkeiten. Mit dieser Haltung der Ermutigung stand Soyfer einzigartig da. Sein Widerstand gründet weniger in der Kritik eines nicht mehr Kritikwürdigen als in schlichter Insubordination: In einem Auslachen des Prinzips „Errasion“ – physischer Auslöschung des Nicht-Konformen. Die Auslöschung hat über das Auslachen gesiegt, aber Soyfer ist gewissermaßen nicht zum Verstummen zu bringen. Keine Worte, von Schweigen genährt, sondern ein Fortklingen. Ich habe in den letzten Jahren sicher mehr Celan gelesen als Soyfer, aber das Lied von der Erde habe ich im Kopf.

Soyfer ist durch seine Stücke bekannt, die man weitläufig zwischen Horváth und Brecht einordnet; bis auf Vineta basieren aber Soyfers Theatertexte auf einem starken rettenden utopischen Moment, einem unglaublich unterstützenden Möglichkeitssinn, sind also ebenso weit entfernt von Horváths Desillusionierungstheater wie von Brechts Didaktik und V-Effekt, beschwingen und rhythmisieren durch ihre eingestreuten Lieder, folgen hier eher dem Vorbild Nestroy und seiner Popularität im Aktualitätsbezug. Stilistisch und emotionell ganz anders gehalten ist der nicht fertiggestellte Dokumentarroman Das Ende einer Partei – eine nüchterne Demontage und Bestandsaufnahme der Bürgerkriegstage im Februar 1934 und die Entwicklung davor, ein Text, dessen Lesbarkeit heute nichts zu wünschen übrig lässt. Vielleicht kann man erst aus heutiger Perspektive einen Namen wie „Dreher“, eine der Hauptfiguren in diesem Roman, komplex wahrnehmen.

Soyfer verehrte Heine und war ein eifriger Fackel-Leser, aber fast näher als an Kraus sehe ich ihn an Kuh und dessen eleganter Polemik. Das Individuum als Souverän seiner selbst ist aber bei Soyfer weniger elitär als egalitär gehalten, ihm geht es nicht um Eloquenz, sondern um Warnung und Ermutigung. Nicht „therapeutischer Nihilismus“, wie ihn William Johnston für die Geisteshaltung des Donauraums diagnostizierte, sondern bei Soyfer, dem russisch-jüdischen Emigrantensohn, der „unösterreichische“ Zug, in jeder Situation das Prinzip für ein positives Handeln herauszusuchen noch in der miserabelsten Situation. Wo es Kraus mit konsequenter, bohrender Aufklärung versuchte, versuchte es Soyfer mit einem Tipp. In seiner Rede zu Nestroys 75. Todestag 1937 zitiert er einen Polizeibericht: Nestroy habe an seinem Theater einen üblen Ruf. Die Disziplin sei so gelockert, dass dem Direktor mehr „aus Kollegialität und Dankbarkeit als aus Schuldigkeit gehorcht wird.“ „Ein guter Tipp!“, erwidert Soyfer. „Wie wär‘s heutzutage mit einem Versuch, gerade diese Art Disziplin einzuführen?“

Etwas in mir wehrt sich dagegen, Soyfer als Satiriker zu sehen, etwas in mir wehrt sich auch gegen die noble, grau gebundene Ausgabe. Zettel wären mir lieber gewesen und Broschüren, kleine Bändchen im Heft-Format. Dennoch hat diese Ausgabe Logik und Notwendigkeit, nicht nur als ein Fast-Lebenswerk des inzwischen emeritierten Germanisten Horst Jarka, dessen Herausgeberschaft man nur anerkennen, schätzen und würdigen kann. Jarka hat von seiner Basis an der Universität in Missoula (Bundesstaat Montana, U.S.A.) einen Großteil seiner Schaffenskraft dem Wiederfinden und Editieren der Texte Soyfers gewidmet, ihm ist diese summarische Expositur letztlich zu danken, auch wenn viele mitgeholfen haben mochten und im Hintergrund die Jura Soyfer-Gesellschaft mit Website, eigener Zeitschrift und Symposien aktiv ist, die Forschung vorantreibt und dokumentiert.

Lesebuchcharakter aber verleihen der Gesamtausgabe die Kurztexte und Gelegenheitsarbeiten, die informativen biografischen Zwischentexte im Briefband und die Anmerkungen des Herausgebers, die eingestreuten Fotos, Karikaturen und Bilddokumente und die einleitenden Kurzessays, darunter der oben erwähnte von Ilse Aichinger. Die Lektüre ist so für Überraschungen gut. Mein faszinierendstes Fundstück waren hier die Gedichte aus der sozialistischen Wochenzeitung Der Kuckuck, die Soyfer zu Zeitungsfotos schrieb. Hier kommt eine mediale Aufmerksamkeit in den Text, die sowohl Soyfers rasches literarisches Reaktionsvermögen erkennen als auch seine völlige Illusionslosigkeit in Hinblick auf die politische Entwicklung. Soyfers Wahrnehmung erinnert hier an John Heartfield, in der Lyrik an Erich Kästner (Soyfers Saurier erwache erinnert in Stil und Methode an Kästners Affengedicht über Die Entwicklung der Menschheit), die Auswahl der Fotos zeigt die Präsenz von Soyfers Wahrnehmung: Die Begegnung von Kamel und Straßenwalze im Wüstensand gibt Anlass zum Zweifel am Fortschritt der Zivilisation, Rekruten, die beim Appell die Schuhe über die Hände gestülpt ihre genagelten Schuhsohlen vorzeigen, Kinder, die in Stahlhelm für die Reichswehr marschieren, ein britischer Bankier zwischen Bobbies mit Geldsäcken, und erst beim zweiten Blick sieht man die kleine Damenpistole in seiner Hand, wartende Arbeitslose in den U.S.A. vor dem Wohlfahrtsamt angestellt, die Rassen in der Hoffnungslosigkeit apathisch vereint – die Bilder dekuvrieren sich in ihrem latenten Grauen, in ihrer ganzen Unheimlichkeit, anhand von Soyfers geschicktem sprachlichen Fingerzeig.

Immer wieder wird die Frage nach der Aktualität Soyfers – damit auch der Legitimität einer solchen Ausgabe – laut, so auch bei Otto Tausig im Vorwort zu Band 2. Für mich stellt sich diese Frage so gar nicht. Soyfer war kein naiver Optimist. Aber er beharrte auf dem utopischen Prinzip. „Ihr nennt uns Menschen?“, hat er gefragt und weniger abgewinkt als gewarnt: „Wartet noch damit“. Warner gab es genug, sein Beitrag war der des Ermutigens in einer hoffnungslosen Situation. Auch wenn viele seiner auf die Arbeitswelt bezogenen Auffassungen klar überholt sind – Soyfer scheint heute wieder aktueller, als uns lieb sein kann.

Werkausgabe.
Herausgegeben von Horst Jarka.
4 Bände.
Wien, Frankfurt am Main: Deuticke, 2002.
1300 Seiten, gebunden, in Schuber.
ISBN 3-216-30643-7.

Rezension vom 01.04.2003

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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