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Wer hier schlief

Isabella Straub

// Rezension von Barbara Rieger

„There’s so much to be learned about pain“ ist dem Roman als Zitat vorangestellt. Zu Beginn ist es der Magen, der Philipp Kuhn Probleme bereitet, doch es folgt weit Schlimmeres. In drei Teilen nimmt der Roman uns mit auf eine moderne Odyssee durch eine Stadt, die ansatzweise als Wien zu erkennen ist.

Im ersten Teil „Bitte weiteratmen“ macht sich Philipp Kuhn gemeinsam mit einem Bild von „Adam“ auf den Weg zu seiner Geliebten Myriam. Das surrealistische Selbstportrait von Ruldolf Hausner ist eines seiner wenigen Besitztümer und das letzte, mit dem er aus der Villa seiner wohlhabenden Lebensabschnittspartnerin Vera auszieht, um mit Myriam neu zu beginnen.

Während Kuhn auf dem Weg durch die Stadt noch in Erinnerungen an die Affäre schwelgt, die nun zu einer Beziehung werden soll, und sich nur langsam zu wundern beginnt, dass er Myriam telefonisch nicht erreicht, dämmert es der Leserin, dass ihm das wohl auch nicht mehr gelingen wird. Als er vor Myriams Wohnungstüre steht, wird ihm bewusst, dass hier etwas nicht stimmt. Nicht nur Kuhns Vorrat an Magentabletten, sondern auch seine Sparbücher befinden sich unerreichbar in der Wohnung, die ihm niemand öffnet. Auch von ihrem Arbeitsplatz, einem Hotel, ist Myriam verschwunden und mit ihr alles Geld aus der Kassa. In der Lobby trifft Kuhn immerhin auf einen älteren Herrn und Stammgast – Friedrich Solak – der ihn mit Süßigkeiten stärkt.

Vorübergehende Zuflucht findet Kuhn im Fitnesscenter Flow, von dem er wie alle Mitarbeiter von Securella – ein Unternehmen für Sicherheitstüren, das seine ehemalige Partnerin Vera leitet und in dem er als ihr persönlicher Assistent angestellt war – einen Mitgliedsausweis besitzt. Dieser ist auch noch nach seinem Rauswurf gültig. Als er bei einem weiteren Besuch in der Wohnung von Myriam feststellt, dass längst eine andere Frau darin wohnt, kollabiert er und wird ins Krankenhaus gebracht.

Im zweiten Teil „Fischen im Milchozean“ sucht Kuhn Obdach bei seiner Mutter, die allerdings mit ihren eigenen Problemen beschäftigt ist und sein Zimmer längst untervermietet hat. So übernachtet er im Fitnesscenter Flow, wo sich Tamara um ihn zu kümmern beginnt. Er irrt sich, wenn er glaubt, „dass er eine Frau wie Tamara nicht einen Tag ertragen würde, nicht einen halben Tag.“ Vielmehr werden sie und der alte Mann aus der Lobby zu seinen wichtigsten Bezugspersonen. Sie sind die einzigen Menschen, mit denen er ansatzweise eine Beziehung aufbauen kann, etwas, das ihm weder mit seiner Mutter, noch mit seiner Schwester, noch mit seiner Expartnerin und mit Myriam auch nur vermeintlich gelungen ist.

Solak lädt ihn zu sich nach Hause ein, zum Trinken eines geheimnisvollen und wohltuenden Elixiers, zum Philosophieren und zum Träumen. Tamara, die bemerkt, dass er obdachlos ist, nimmt ihn in ein Pflegeheim mit. Dort wohnt sie als eine der SUHOs – Suddenly Homeless – in Wohnungen frisch verstorbener Insassen. Gemeinsam werden die Wohnungen renoviert und alternative Lebenskonzepte erprobt. So sollen neue Mitglieder demnächst in den Wohnungen noch lebender Pflegebedürftiger untergebracht werden, so genanntes NESTING.

So leitet sich der Titel Wer hier schlief von einer App ab, mit deren Hilfe das NESTING-Projekt umgesetzt werden soll: „Jede NESTING-Vorstellung endet mit einer Empfehlung: Wer hier schlief, schlief auch bei Herrn x oder Frau y.“

Auch wenn Kuhn dies befremdet, bleibt er aus Mangel an Alternativen bei den SUHOs, ernährt sich mit ihnen gemeinsam von den Überresten öffentlicher Buffets und fühlt sich in einigen Momenten sogar geborgen.

Von einem ehemaligen Kollegen erfährt er, dass gegen Myriam wegen Industriespionage ermittelt wird und dass sie Kuhn offenbar nur benutzt hat. Dann landet auch noch Kuhns Mutter im Krankenhaus. Schlimm ist dabei weniger ihr Gesundheitszustand, als die Tatsache, dass es Kuhn nicht gelingt, auch nur ansatzweise zu ihr durchzudringen. Dafür trifft er im Krankenhaus wieder auf Solak, der ihm den Schlüssel zu seiner Wohnung aushändigt. Schließlich rafft Kuhn sich dazu auf, eine Diebstahlanzeige gegen Myriam aufzugeben.

Im dritten Teil „Still alive“ rekapituliert Kuhn, was ihm passiert ist, während es immer weiter abwärts geht. Solak verstirbt und Tamara, der er vorsichtig näher kommt, vermittelt ihm einen Job als verkleideter Popcornverkäufer, bei dem er ausgerechnet auf Vera trifft. Bei einer SUHO Aktion, für die sie sich das Baby einer offenbar drogenbeeinträchtigten Kollegin ausborgen, beginnt sich in Kuhn etwas zu regen. Er zerstreitet sich mit Tamara und wird von einem Auto angefahren. Die vorletzte Zuflucht findet er in Solaks Wohnung. Am Ende versöhnt er sich mit Tamara und besucht eine Ausstellung von Hausner im Museum. Dort erkennt er, dass „Adam“, den er die ganze Odyssee über mit sich herumgeschleppt hat, nur einen Ausschnitt des Bildes „Labyrinth“ darstellt: „Alle Gestalten, Kuhn ahnte es, waren Facetten dieser einen Figur: Adam. Und all das hatte er auf dem kleinen Ausschnitt nicht sehen können, den er besaß. All das war verborgen gewesen.“

Philipp Kuhn versteckt sich, bis das Museum schließt, setzt sich vor das Bild, leert eine Flasche des Elixiers aus Solaks Wohnung und schläft ein.

Durch die klare Sprache und die plastischen Dialoge fällt es der Leserin leicht, dem Protagonisten auf seiner Odyssee zu folgen, wenn auch das Ziel immer unklarer wird. Zahlreiche gezielt eingesetzte Details machen die Reise kurzweilig, spannend, manchmal sogar lustig. Die verschiedenen immer wieder auftauchenden, an unterschiedlichen Orten zusammentreffenden Figuren sind ebenso detailreich und liebevoll gezeichnet und wirken – zumindest aus der Perspektive Kuhns – genauso verloren wie er selbst. Es sind hauptsächlich Durchgangsorte – nach Marc Augé so genannte Nicht-Orte –, an denen Kuhn mit den anderen Figuren zusammentrifft: Öffentliche Plätze, Verkehrsmittel, ein Hotel, ein Krankenhaus, ein Fitnesscenter, ein Pflegeheim, ein Einkaufscenter. Nur in der Wohnung von Friedrich Solak kommt ein wenig heimatliche Geborgenheit auf.

Wie man durch Rückblenden erfährt, besteht die Einsamkeit des Protagonisten schon lange vor dem Betrug durch Myriam. Es ist eine existentielle Einsamkeit, die sich auch in den anderen Figuren spiegelt. Gekonnt wird die Einsamkeit des Individuums mit gesellschaftlichen Strukturen in Verbindung gebracht. So ergibt sich eine subtile und daher umso stärkere Kritik an gegenwärtigen (westlichen) Lebensformen, und ein mitunter surreales, manchmal skurriles und vor allem melancholisches Portrait vom Leben in einer Stadt, die Wien und gleichzeitig Nicht-Wien ist.

Das einzige, was man dem Roman vorwerfen könnte, ist, dass er zu viel zu erzählen versucht. Doch dabei muss man der Autorin sofort zu Gute halten, dass dies während des Lesens keineswegs auffällt oder gar stört.

Eine gekonnte, einzigartige und melancholische Mischung aus alltäglichen Skurrilitäten und subtiler Kritik an unserer Zeit und unseren Lebensformen.

Wer hier schlief.
Roman.
Berlin: Blumenbar bei Aufbau, 2017.
286 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-351-05042-9.

Homepage der Autorin

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 20.09.2017

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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