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Wenn Gott tot ist

Brigitte Schwaiger

// Rezension von Susanne Eichhorn

„Wenn Gott tot ist, dürfen wir tun, was wir wollen.“ Dieses Zitat aus Brigitte Schwaigers „Memoiren“ klingt nach einem finalen Befreiungsschlag – der nur noch ein „Endlich!“ vermissen lässt – und ist nicht nur für ihre Autobiographie, sondern ebenso für ihren literarischen Nachlass aussagekräftig. Hier schreibt sie sich ihr Leben von der Seele, das geprägt ist von auferlegten und verinnerlichten Schuldgefühlen sowie dem lebenslangen Unvermögen, diese wieder loszuwerden.

Brigitte Schwaiger wächst in einer Zeit auf, als von einer Aufarbeitung der NS-Verbrechen Österreichs noch lange keine Rede sein wird, im Gegenteil, im Schulunterricht der 1950er Jahre werden Gaskammern nicht erwähnt, im gutbürgerlichen Elternhaus wird die Tochter vor dem Umgang mit Juden gewarnt, und dem kindlichen Geist werden Angst und Schuld, Unwahrheiten und Verleugnung eingetrichtert. Dass die Mutter selbst jüdische Vorfahren hatte, erfährt die Tochter eines ehemaligen SS-Arztes erst nach der Matura. Zu der Erkenntnis, dass Hitler nicht gut war und Juden nicht schlecht sind, muss die junge Frau mühsam selbst finden. So beginnt die Gegensätzlichkeit zu den oktroyierten Wahrheiten aus der Kindheit allmählich ihre Seele zu zerreißen.

„Bei allen diesen Gedanken hatte ich das schlechte Gewissen, ein böser Mensch zu sein…“ (97) Der Glaube an Gott geht schon früh verloren, gefördert von sadistischen Klosterfrauen und den für ein Kind widersprüchlichen, weil mangels Aufklärung unverständlichen Geboten des Katholizismus. Strafe, Buße und Todsünde, Fegefeuer und ewige Verdammnis stellen schon bald keine realistische Bedrohung mehr dar. Doch die Schuldgefühle bleiben, werden von einem patriarchalen, gewalttätigen Ehemann verstärkt, durch den übermäßigen Erfolg ihres ersten Romans kurz gemildert, von einer besitzergreifenden und übermächtigen Mutter weiter geschürt, von Kollegen und Förderern gelenkt, und führen schließlich zur Borderline-Persönlichkeitsstörung. Der Wunsch, ihren Aufenthalt in der Nervenheilanstalt zeitlich nicht zu begrenzen, wird Brigitte Schwaiger abgeschlagen, irgendwann gelangt sie zu der Erkenntnis, dass das „Gefühl völliger Wertlosigkeit“ (33) nicht einmal mehr mit Alkohol und Medikamenten zu betäuben ist.

„Gutbürgerlich“, so beginnt Schwaigers erfolgreichster Roman Wie kommt das Salz ins Meer?. 1977, als die öffentliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gerade noch nicht begonnen hat, wird es veröffentlicht und umgehend ein Erfolg. Der Roman, stark autobiografisch geprägt, erzählt in Ich-Form von der Monotonie des Ehealltags und den vergeblichen Versuchen eines Ausbruchs aus dieser Welt. Das Gefühl, in einer gutbürgerlichen – also kleingeistigen – Zwangsjacke zu stecken, veranschaulicht nicht nur dieser Roman. Schwaigers Band Fallen lassen aus dem Jahr 2006 erweitert das Thema um den Begriff der gesellschaftlichen Ächtung psychisch kranker Menschen. Diese beiden Bücher Schwaigers markieren eben jene Zeitspanne von fast 30 Jahren, in der Erfolg, Vergessen-werden, Verschuldung, sozialer und psychischer Niedergang bis zur Einweisung in eine Klinik und neuerlicher Erfolg zu einem „längeren Weg“ werden. Diesen kann sie noch durch ihr „schreiben über mein unglückliches Leben“ literarisch verarbeiten, in der Realität jedoch endet ihr Weg im Sommer 2010 abrupt, als ihr die Wahl, dem Leben selbst die Entscheidung über das Ende zu überlassen, endgültig abhandenkommt.

Die Sprache Brigitte Schwaigers in den „Memoiren“ ist ebenso vertraut wie markant in ihrer schonungslosen wie auch humorvollen Art der kritischen Aufarbeitung. Die nun nicht mehr namenlose Erzählerin beschreibt trotz repetenter Rück- und Tiefschläge ihr Leben ohne mitleidheischenden Unterton, jedoch auch ohne erwartete Schuldzuweisungen. Die Kritik an der „gutbürgerlichen“ Welt bleibt durchwegs bestehen.

Allerdings entsteht beim Lesen immer wieder ein Gefühl der Verlorenheit, das der unbearbeitete Text erzeugt. Der reflektierte Rückblick auf das eigene Leben, auf den die Erwartung beim Lesen einer Autobiographie zielt, wird wiederholt enttäuscht, weil Abschnitte oft abrupt enden, unvermittelt in andere übergehen und Gedanken vielfach nicht zu Ende gebracht werden. Brüche, die sich – so sie vom Autor intendiert sind – durchaus positiv auf einen Text auswirken können, stören hier den Lesefluss. Sie erschweren die Nachverfolgung einzelner Gedankengänge der Autorin und lassen gleichzeitig den Eindruck entstehen, dass genau diese Überlegungen bei einer weiteren Durchsicht vervollständigt worden wären. Dabei ist der fragmentarische Charakter einer solchen Textsorte in seiner Gesamtheit nicht unbedingt von Nachteil, doch erhält der Leser oft den Eindruck, voyeuristisch und verbotenerweise in geheime Notizen hineinzulesen, deren Veröffentlichung von der Autorin wohl nicht auf diese Weise angedacht gewesen sein konnte. Obwohl genau darauf ein Hinweis im Klappentext zu finden ist, hätte eine leichte Bearbeitung diesem posthum veröffentlichten Text im Sinne des Gesamteindrucks des Nachlasses gutgetan.

Der Wirkung über das tragische Ende der Autorin hinaus tut dies aber keinen Abbruch. Die Lektüre hinterlässt in ihrer sprachkräftigen Besonderheit Spuren der Bitterkeit über die Erkenntnis eines verlorenen Kampfes. Brigitte Schwaiger entlässt die Leser ihrer Memoiren in ein offenes Ende, welches sie dortselbst aber zugleich vorwegnimmt: „Mit fünfzehn hatte ich den Freitod erwogen, sieben Jahre später ab einem bestimmten Tag kein Tag mehr ohne Selbstmordwünsche. […]…und immer wieder: wäre ich doch tot.“ (89)

Wenn Gott tot ist.
Memoiren.
Wien: Czernin Verlag, 2012.
112 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-7076-0424-5.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

 

Rezension vom 13.11.2012

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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