#Roman

Wenn gefährliche Hunde lachen

Maxi Obexer

// Rezension von Martina Wunderer

Das Missverständnis, man könne sich als Mensch bewegen.

„VOR DEINEN AUGEN: EUROPA! EUROPA muss IN DEINEN AUGEN sein. EUROPA! Alles das ist EUROPA! EUROPA! EUROPA! Wer Europa sehen möchte, muss es schon hier sehen! Er muss es in seinen Augen haben, er muss EUROPA überall sehen, auch mitten in der Wüste, EUROPA!, bläut Benjamin seinem Schützling Helen ein. Gemeinsam sind sie auf dem Weg von Nigeria nach Spanien, und dieser Weg ist die Hölle. Benjamin aber hat verstanden, „dass du nur überleben kannst, wenn du aufhörst, die Hölle zu vermessen, in der du dich befindest.“

Die mörderische Sonne, die auf die zusammengedrängten Glückssucher auf Jeeps und Lastwagen brennt. Der Durst und der Hunger. Der Gestank nach Urin, Erbrochenem und Angstschweiß. Wer erkrankt oder einschläft und von der Ladefläche fällt, wird zurückgelassen. Helen und Benjamin sind für die Schlepper Menschenmaterial, nichts als Ware. Sie werden von ihnen auf halbem Wege mitten in der Wüste abgeladen, um schneller an neuen Kunden verdienen zu können.

Und verdienen wollen alle an der Völkerwanderung: Schlepper, Grenzsoldaten, Polizisten, Staaten. „Einer im Gefängnis hat behauptet, die europäischen Länder würden Libyen viel Geld dafür geben, um die Afrikaner von sich fernzuhalten. Er wurde daraufhin zusammengeschlagen. Doch dieses Mal nicht von den libyschen Polizisten, sondern von den Insassen selbst,“ erzählt Benjamin.

Auf Europa lassen die Migranten nichts kommen, sie wollen nichts wissen von bilateralen Abkommen zur Bekämpfung illegaler Einwanderung, die den libyschen Staat gegen großzügige Zuwendungen zur Flüchtlingskontrolle verpflichten – oder verpflichteten, inzwischen ist Gaddafi ja persona non grata. Gleichzeitig verdiente Libyen kräftig weiter am lukrativen Schlepper-Geschäft. „Das alles [war] untereinander abgesprochen […], die Fahrer, die uns nach Kufrah fuhren, die Soldaten, die uns dort empfingen und uns in den Kerker warfen, die Gefängniswärter, die uns an die Schmuggler verkauften, die Schmuggler, die uns freikauften und uns das Dreifache dafür abnahmen und so weiter.“ Wer nichts mehr hat, wird misshandelt und missbraucht. Der eigene Körper wird als Zahlungsmittel eingesetzt: „Für Frauen als natürlicher Zoll zu verstehen […], wenn sie nach Europa wollen.“ Der Wunsch, in Europa zu leben, das Versprechen an die Eltern, dort heil anzukommen, wird zu Helens einzigem Überlebensprinzip. Selbst Benjamin kann sie nicht mehr trauen. Ist er auf ihrer Seite oder auf der Seite derer, die Profit aus ihrer Flucht schlagen wollen? Im Zweifel für den Zweifel, und so schlägt sich Helen von nun an alleine durch.

„Sag allen, es geht mir gut“, beendet sie ihre Briefe an die jüngere Schwester, und es klingt wie eine Beschwörung, wie ein Bannspruch gegen die immer unerträglicher werdenden Umstände. Gegen den blutigen Ernst ihrer Lage setzt sie die Kraft ihrer Vorstellung. Und irgendwann erreicht sie tatsächlich das gelobte Land: „Liebe Mutter, lieber Vater, lieber Victor, kleiner Bruder, liebe Pat, ich bin in Europa.“

Doch die Desillusionierung folgt auf dem Fuß. Europa, das bedeutet für Helen nicht Freiheit oder Selbstbestimmung, sondern erneut Illegalität, Demütigung, behördliche Willkür. Als Asylbewerberin bleibt Helen gefangen im „existenziellen Ausnahmezustand“. „Die Flüchtlinge fristen ein Dasein als quasirechtlose Unpersonen. Erst der Staat verwandelt Menschen in Personen, indem er ihnen eine Identität verleiht. Er verwandelt sie in Rechtssubjekte, und als solche begegnen sie einander und sich selber. Und es liegt in seiner Gewalt, ob er dies tut oder nicht“, schreibt Thomas Steinfeld anlässlich der jüngsten Flüchtlingswelle in der Süddeutschen Zeitung. „Der Flüchtling“, erklärt der italienische Philosoph Giorgio Agamben, „sollte als das betrachtet werden, was er ist: nichts als eine Idee von Grenze. Was auch heißt: Nicht einmal als Mensch erreicht er die Grenze, an der er zurückgewiesen wird, sondern nur als Unperson.“

Gegen diese rigorose Trennung von Mensch und Person schreibt die Südtiroler Autorin Maxi Obexer in ihrem Buch „Wenn gefährliche Hunde lachen“ an. Sie wählt dafür die Ich-Perspektive und leiht so einer Betroffenen ihre Stimme. Und während Helen bei den Behörden auf taube Ohren stößt, hört der Leser ihr zu. Erschrocken lauscht er ihrem Reisebericht, der aus einem Mosaik von Dialogen, Briefen, Rückblenden und Tagträumen besteht.

Dabei drängt sich unvermeidlich die Frage auf, ob Literatur etwas leistet, was eine Dokumentation nicht vermag. Dies zu beantworten, wird hier nicht gelingen. Darüber nachzudenken schon. Nur wenige Tage nach der Publikation des Romans interviewte die Süddeutsche Zeitung ein Dutzend Migranten und bat sie, ihre Geschichte zu erzählen. Was sie berichteten, ist so schockierend, dass man es gerne für Fiktion halten würde. Helens Geschichte wiederum ist Fiktion, doch deshalb um nichts weniger schockierend und nicht weniger wahr. Denn „Literatur“, so Richard Kämmerlings, „ist ihre Zeit, in Geschichten gefasst“. Sie „kann ihren Auftrag […] nur einlösen, wenn sie sich ihrer Zeit auch zuwendet. Wenn sie Themen und Stoffe, Obsessionen und Ängste, Phantasien und Hoffnungen ihrer Epoche in Erzählungen ausprägt“.
Maxi Obexer ist dies in ihrem mutigen Romandebüt auf einfühlsame Weise gelungen.

Maxi Obexer Wenn gefährliche Hunde lachen
Roman.
Wien, Bozen: Folio, 2011.
168 S.; geb.
ISBN 978-3-85256-555-2.

Rezension vom 16.05.2011

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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