Daß das Werk eines zeitgenössischen Autors einen „professionellen Leser“ – als solchen sieht sich Wagner gern – drei Jahrzehnte lang herausfordern und anregen kann, spricht allein schon für dieses. Wagners Parcours hat nichts von einem regelmäßig wiederholten „Parallelslalom“, wie ihn Klaus Nüchtern bei Autor-Kritiker-Paaren ortet, auch wenn gewisse Zitate und Einschätzungen sich gegen Ende des Buchs häufen, vor allem im aufschlußreichen Essay über Handkes Musil-Ablehnung mit dem Untertitel „kein Vergleich“. Autoren brauchen Leser, und die dankbare Aufgabe der professionellen Leser besteht darin, Zugangsmöglichkeiten aufzuweisen und Vorgänge des Lesens zu beschreiben. Auch sie „spuren“ in diesem Sinne – um eines der ganz wenigen Handke-Wörter zu zitieren, die Wagner in seinem zwischen Sympathie und Distanz navigierenden Meta-Diskurs gebraucht.
„Wenn man die eigenen, dreißig Jahre alten Texte liest, sieht man sich nicht nur mit Erfreulichem konfrontiert“, gesteht Wagner im Interview. Vermutlich denkt er dabei in erster Linie an seine frühe Kritik an Handkes „Rückzug in den geschichtslosen Augenblick“, wie er Ende der siebziger Jahre formulierte. Daß er damals mit Vorwürfen an Handke nicht sparte, mag mit dem Eifer des Junggermanisten zu tun haben, mehr jedoch liegt es am zeitlichen Kontext, da die sogenannte Ideologiekritik (noch) en vogue war. Bei Wagner spürt man inmitten der Kritik aber eine Faszination, und es ist gut, daß er diesen frühen Text in den Sammelband aufgenommen hat, weil er unerläßlich ist, um die Entwicklung des professionellen Handke-Lesers verständlich zu machen. Handkes Geschichtslosigkeit, so zeigt sich bei der weiteren Lektüre von Weiter im Blues (der Titel des Buchs könnte auch als Zuruf an den Verfasser gemeint sein), daß Handke zwischen der Idee einer vorsätzlich geschichtsabgewandten Lebensform, einer alternativen, besseren, d. h. vor allem friedlichen Geschichte und, drittens, einem notfalls auch handgreiflichen Eingreifen in die faktisch ablaufende Geschichte schwankt. Wir rühren hier an eine Dimension, in der sich die Unruhe eines Autors, der über die Jahre hinweg und erklärtermaßen auf der Suche nach Orten der Sanftmut ist, mit einer eigenen Dramatik abspielt. Ein zweiter Vorwurf, der sich aus dem ersten fast zwangsläufig ergibt, betrifft den „resignativ-fatalistischen Standpunkt“, der Gregor Keuschnig, den Helden von Die Stunde der wahren Empfindung, davon abhält, seine Entfremdung als gesellschaftlich bedingt und durch gesellschaftliche Praxis änderbar zu erkennen. Die linkshändige Frau, das in der Chronologie folgende Werk, sei dann vollends „von jedem Rest gesellschaftlicher Realität gesäubert.“
In seinem frühen Aufsatz scheint sich Wagner auch daran zu stoßen, daß Handkes Erzählungen bewußt auf einen plot im Sinne fokussierter, kausal oder psychologisch motivierter Handlungsfolgen verzichten. In späteren Aufsätzen schätzt er gerade dieses plotlose, dafür aber existentiell grundierte Erzählen als Alternative sowohl zu den Spielarten der Avantgarde (Wiener Gruppe, Konkrete Poesie) als auch zu postmoderner Gefälligkeit. Man könnte jedoch bei der frühen Handke-Kritik verharren und in ihrem Licht den besonderen Subjektivismus erkennen, der Handkes Schreiben bis heute prägt und möglicherweise eine Beschränkung dieses ansonsten außerordentlich weiten, sich immer wieder regenerierenden Erzählkosmos bemerken; eines Kosmos, der sich noch einmal erweitert, wenn Wagner den Leser Handke und die Leserfiguren in dessen Büchern darstellt. Beschränkung, aus der dieses Schreiben zugleich seine Stärke zieht, sein Raffinement, sein Differenzierungsvermögen im Bereich der Aisthesis und der ihr entsprechenden Wahrnehmungsprosa. Handke selbst hat mehrmals geäußert, er sei nicht imstande, Gesellschaftsromane zu konstruieren. Eine de Linien in Wagners Buch verfolgt die Absicht, Handkes Auseinandersetzung mit der Tradition des realistischen Romans des 19. Jahrhunderts nachzuzeichnen, und kommt zu dem Schluß, da ´sie in den Jahren nach Handkes „Kehre“, also im Verlauf der achtziger Jahre (des 20. Jahrhunderts), in das neue Konzept einer Epik gemündet sei und große Bücher wie Mein Jahr in der Niemandsbucht, Der Bildverlust und zuletzt Die Morawische Nacht hervorgebracht habe. Neu ist dieses Konzept – Konzept als Ergebnis und Ansporn verstanden – natürlich nur bedingt, denn Handke greift hier zurück auf vormoderne Formen, auch auf Lehrdichtungen fernab jeder Fiktion (etwa von Lukrez oder Vergil). Im Mittelpunkt von Handkes frühen Erzählungen, abgesehen vielleicht vom Erstling Die Hornissen, steht jeweils ein Individuum, das Einsamkeit und Weltekel erfährt, andererseits aber auch seltene Glücksmomente, Epiphanien, weltlich mystische Einheitserfahrungen. Der bereits erwähnte Gregor Keuschnig sucht aus solch einem Moment eine dauerhafte Lebensmöglichkeit zu gewinnen, wie überhaupt ein Grundkonflikt von Handkes Erzählpoetik darin besteht, von der Augenblicksverhaftetheit des Erlebens weg zu einem glücks- oder wenigstens sinnerfüllten Zeitraum zu gelangen, der einen Tag, aber auch eine Epoche, etwa ein Jahr in der Niemandsbucht, dauern kann.
Bei allen diesen späteren Versuchen bleibt Handkes Erzählweise der subjektiven Perspektive verhaftet, dem Ich-und-Welt, wobei das Und sowohl Trennung als auch Vereinigung signalisieren kann. In den von Handke bis zur Virtuosität beschriebenen Kippbildern und Schwellenszenen schlägt eins ins andere um. Mit großer Konsequenz – er selbst spricht zuweilen von „Sturheit“ und verweist auf seine Herkunft als Keuschler-Sohn – hat sich Handke hierfür im Lauf der Jahre quasi eine neue, eigene Gattung, das moderne Epos mit märchenhaften Zügen, zurechtgeformt. In dieser Gattung gibt es keine Intersubjektivität, sondern jeweils nur die breit entfalteten Beziehungen eines Subjekts zu einer Objektivität, deren Zugänglichkeit und Beschreibbarkeit krisenhaft bleibt. Der in rhythmisch wiederholten Fragen zum Ausdruck kommende Zweifel ist einer der Aspekte der Modernität dieser Märchen-Epen.
Selbstverständlich kommen in dieser (sehr subjektiven) Objektivität, in dieser einzigartigen Handke-Welt auch zahllose Personen vor, aber nicht als Subjekte, ausgestattet mit einer Innenwelt, mit Wünschen, Sehnsüchten, Absichten, sondern als zu beschreibender Teil der Außenwelt. Die sieben „Freunde“, denen in Mein Jahr in der Niemandsbucht jeweils ein Kapitel gewidmet ist, sind Alter-Egos, also Varianten des wahrnehmenden und erzählenden Ichs (das auch in der Er-Form auftreten kann). Wagner verweist darauf, daß diese werkgeschichtlichen Vorgänge erst im Rückblick so recht überschau- und begreifbar werden. Daß der professionelle Leser sich deren schrittweiser Erkenntnis nicht ohne Staunen öffnet, macht eine der Stärken seines Buchs aus und bringt sogar ein Element der Spannung hinein. Bedenkt man demgegenüber die Hysterien der oft politisch motivierten Kampfschriften und –handlungen (etwa vonseiten der Düsseldorfer Stadträte im Jahr 2006) gegen Handke, so wird deutlich, wie gröblich darin ein außerordentlich facettenreiches Werk reduziert wird. Mit Recht benennt Wagner im Interview Handke als Gegenfigur zu Thomas Bernhard und dessen monomanischer Arbeit an immer denselben Themen.
Ein zweiter kritischer Moment in Wagners Auseinandersetzung mit Handke ist dessen Tetralogie Langsame Heimkehr, der er eine „postulatorische Rhetorik“ attestiert – ein Urteil, das sich überzeugend durch Passagen im „dramatischen Gedicht“ Über die Dörfer belegen läßt, schon etwas weniger überzeugend durch die Erzählung Langsame Heimkehr und kaum durch die Kindergeschichte und den Essay Die Lehre der Sainte-Victoire (die beiden zuletzt genannten Werke hat Wagner lange Zeit etwas stiefmütterlich behandelt). Diese Rhetorik kann Wagner bis heute nicht recht goutieren, und daß er seine kritische Distanz ebenso deutlich wie nüchtern formuliert, ist eine weitere Stärke seines Buchs. Im Lauf der Zeit und der fortschreitenden Lektüren zeigt sich, daß Handkes Kehre, womöglicht mitsamt ihren Verstiegenheiten, ein notwendiger Schritt auf dem Weg zu seiner neuen Epik ist, die im Vergleich zu der ringenden, noch in der Beschwörung von Ruhebildern heißlaufenden Prosa gelassener, ironischer, stellenweise auch absichtlich komisch ist. Mehrmals fällt in Wagners Aufsätzen das Wort „Gelassenheit“, wenn Handkes Spätwerk in den Blick genommen wird. Nicht verwunderlich, ist Gelassenheit doch ein Vorrecht des Alters, wenn nicht gar ein ontobiologisches Phänomen. Ein vergleichbarer Vorgang ist auch beim professionellen Leser festzustellen, dessen Übersicht im Lauf der Jahre gewachsen ist und geradezu stupende Ausmaße angenommen hat. Bewundernswert, mit welcher Leichtigkeit etwa die vielfältigen Bezüge von Handkes Werk zur Weltliteratur erhellt werden. Eine sicher nicht zu unterschätzende Dimension darin ist die spanische, die sowohl zur Ausgestaltung des neuen Epik-Konzepts als auch zu einer Revision dessen, was Mystik sein kann, beiträgt. Diese spanische Dimension ließe sich ohne weiteres mit der balkanischen verbinden, die im Wagnerschen Meta-Diskurs nicht ganz den Stellenwert einnimmt, den sie bei Handke tatsächlich hat, vielleicht deshalb, weil Wagner eine prononcierte Scheu hat vor dem, was er als „biographisches Schnüffeln“ bezeichnet. Fabjan Hafner ist in seiner ebenfalls sehr lesenswerten Handke-Monographie Unterwegs ins Neunte Land diesen „jugoslawischen“ Zusammenhängen nachgegangen.