Matilda ist ein Mädchen, das zur Frau wird. Sie steht im Zentrum dieses Romandebüts der bis dato als Lyrikerin publizierenden Grazerin. Dieses Erwachsenwerden von Matilda ist in enger Ich-Perspektive geschildert, dabei laufen zwei Erzählstränge parallel. Der Tod ihrer Mutter bei der Geburt ist ein Ereignis, das hinterfragt zu werden verdient. Es ist eine fast programmatische Metapher für das erwachende Selbstbewusstsein junger Menschen, dass den familiären Biografien gründlich misstraut wird. So ist auch die Skepsis an der väterlichen Version von Mutters Sterben ein Movens für Matilda aus den vorformulierten Deutungen auszubrechen. Dabei hilft Matilda die Mutter des Vaters. Die Großmutter dümpelt zwar – konsequent über ihren nichtsnutzigen Sohn schimpfend – in einem Heim dahin und weist immer wieder einmal Gedächtnisaussetzer auf, doch sie bringt Matilda auf die richtige Fährte, was mit ihrer Mutter wirklich passierte, und vermittelt ihr ein grobes Verständnis dessen, welcher Mensch sie war.
Pädagogische Ohnmacht
Das Entdecken der Wahrheit über die Mutter wird durch das Schweigen des Vaters geradezu beschleunigt. Leider ist in der Komposition dieses stimmigen Buches die Szene, in welcher der Vater in einem Redeschwall alles Wesentliche über die Mutter offenbart, beinahe zu abrupt gesetzt. Aber vielleicht muss ein chronischer Schweiger sein Schweigen immer wieder mit konvulsivischen Bekenntnissen ausbalancieren? Der schweigende Vater stellt keinen Einzelfall dar, ist doch das Leben im ländlich entlegenen Kratzbach, dessen fiktiver lautmalerischer Name schöne Assoziationen über die fehlende Attraktivität des Ortes nährt, ohnedies von mangelnder Sprachmächtigkeit geprägt. Gerade die atmosphärischen Schilderungen Harters zum Schulalltag und die stereotyp vor den Gefahren des Internet und vor Fremden warnende Direktorin Hochgatterer bestätigen diese Sprachohnmacht. Wer Formeln von Gut und Böse aufstellt und daran festhält, hat nichts von Pädagogik begriffen. Diese Unfähigkeit bestätigt sich geradezu, als die 14-jährige Schulkollegin Jasmin blutig im Keller des Schulwarts gefunden wird. Statt über Trauer und Wut, über Macht, über Irritation zu sprechen, werden die Warntafeln vergrößert.
Rettung und Untergang
Es wäre keine Literatur und auch keine Literaturkritik, beschriebe man Weißblende als Missbrauchsgeschichte. Literatur ist in gewissem Sinn voller Weißblenden. Es ist die große Leistung dieser engen Ich-Perspektive, dass die jugendliche Matilda einen neuen Untermieter erst sehr spät als Täter erkennen kann. Am Anfang ihrer Begegnung ist er ein Licht im Dunkel und er erscheint ganz und gar nicht als Blender. Er ist nahbar, sprachlich wie körperlich. Er wird zu Matildas Vertrautem und das völlig berechtigt. Der Wunsch Matildas zu fliehen ist groß genug, um mit dem exotischen Fremden, der den etwas eigenwilligen Namen Bonmot trägt, eine Reise anzutreten. Zeitgerecht folgt im Roman der kurze Hinweis auf Nabokovs „Lolita“. Es ist das Schicksal aller Nachgeborenen, dass um gewisse schroffe Felsen des Literaturkanons geschickt navigiert werden muss, um nicht ohne Schuld Schiffbruch zu erleiden. Auch einige weitere dezent gesetzte intertextuelle Verweise, etwa auf Goethes „Werther“, korrespondieren mit den Themen, die Matilda zusetzen.
Interessanterweise kommt Matilda aufgrund ihrer eigenen aufwühlenden Geschichte nicht mehr dazu, Kleists‘ „Das Erdbeben in Chili“ zu lesen (Matilda, die vorbildliche und literarisch talentierte Schülerin, erhält von ihrem Deutschlehrer – auch er ein Humanist mit pädophiler Neigung – eine Leseliste für den Sommer).
In der Novelle „Das Erdbeben in Chili“ sind – wie im Werk Kleists häufig anzutreffen – Rettung und Untergang untrennbar miteinander verwoben. Auch Matildas Retter Bonmot erweist sich als Bote des Untergangs. Vom glamourösen Liebhaber entwickelt er sich binnen kurzem zum kalkulierenden Zuhälter. Vom zarten Berühren bis zum sexuellen Furor verläuft das Erwachsenwerden Matildas rasend.
Die klare Sprache der erzählenden Matilda wird im letzten Drittel durch eine expressionistisch durchsetzte Rede abgelöst. Die psychische Auflösung wird so spürbar. Der Missbrauch bleibt für Matilda bis zum Schluss schwer als solcher zu fassen, da er zu eng mit ihrem eigenen als wertvoll empfundenen Aufbruch verknüpft ist. In dieser Hinsicht eine wichtige Lektüre, geradezu schonungslos aufklärend.