#Sachbuch

Weimar literarisch/Wien literarisch

Christine Hehle (Hg.), Jens Kirsten (Hg.)

// Rezension von Redaktion

Stadt-Lesebücher gehören zu den Buchprodukten, die nach wie vor auf Käufer hoffen können. Sie erscheinen meist in einer Serie mit mehreren Folgen und sind wohl vor allem für reisende Leser gedacht, die sich mit dem Faktenmaterial des Reiseführers nicht zufrieden geben wollen. Ihren Bedürfnissen entspricht das ausführlichere Lesebuch, das anhand ausgewählter literarischer Texte belehrende und unterhaltsame Einblicke in die Kultur einer Stadt gibt.

Eine dieser Städte-Reihen erscheint im Berliner Aufbau-Verlag, und dort sind unter anderem auch die Bände Weimar literarisch und Wien literarisch erschienen. Wie die Reihe insgesamt, so sind diese beiden Bücher sachkundig redigiert und ansprechend gestaltet, so dass daran eigentlich nichts auszusetzen ist.

Jens Kirsten (Weimar) und Christine Hehle (Wien) versammeln Texte aus unterschiedlichen Epochen und mischen dabei Beiträge von berühmten Autoren mit Texten von Unbekannten. Die Geschichte, die Kirsten mithilfe ausgewählter Weimar-Texte erzählt, beginnt mit einem Porträt der berühmten Anna Amalia. Das kulturelle Engagement dieser Landesfürstin gab den Anstoß dafür, dass aus einem hinterwäldlerischen Kleinststaat das Zentrum der deutschen Klassik werden konnte, in dem Goethe, Schiller und Herder nebeneinander leben und arbeiten konnten. Dieser Blütezeit Weimars wird selbstverständlich viel Raum gegeben, aber erfreulicherweise präsentiert der Herausgeber dabei viele unbekannte Texte. Unter anderem findet man einen längeren Bericht über jene spektakuläre Exhumierung, die 1826 den Schädel des 1805 verstorbenen Schiller wieder ans Tageslicht brachte. Dieser Text entstammt dem Buch Harmlose Geschichten. Erinnerungen eines alten Weimaraners, das ein Arzt namens Julius Schwabe 1890 verfasst hat. Wer Lust dazu hat, kann auf den Seiten 31 bis 42 der Weimar-Anthologie nachlesen, welch schöne deutsche Prosa dieser heute nicht mehr bekannte Mediziner zu schreiben vermochte. Schon die ersten Sätze des Textes nehmen mit ihrer sorgfältigen Genauigkeit für den Autor ein: „Als Schiller am 9. Mai 1805 starb, verbreitete sich unter den Bewohnern Weimars allgemeine Bestürzung und tiefe, herzliche Trauer. Im Widerspruche hiergegen stehen die zum Verdruss immer und immer, auch noch ganz neuerlich, wiederkehrenden Legenden von der angeblich höchst einfachen und schmucklosen Totenfeier für Schiller, woraus man auf Mangel an Teilnahme des weimarischen Publikums schließen zu müssen glaubt.“

In unmittelbarer Nachbarschaft zu diesen Zeilen findet man ein ausgesprochen simples, konventionell-munteres Gedichtchen, das mit den Zeilen endet:

“ […]
Spiel und Tanz, Gespräch, Theater
Sie erfrischen unser Blut;
Lasst den Wienern ihren Prater:
Weimar, Jena, da ist’s gut!“

Derlei könnte man jedem Hobbypoeten des späten 18. oder frühen 19. Jahrhunderts zutrauen, es stammt aber von Goethe höchstselbst, der sich bekanntlich für gesellige Plattheiten niemals zu schade war.

In der weiteren Folge wird dokumentiert, dass die meisten Besucher (darunter auch kritische wie Egon Erwin Kisch) auf Goethes Spuren in die Stadt gekommen sind. Darüber wird jedoch nicht vergessen, dass die erste deutsche Republik in Weimar gegründet wurde, und dass es dort auch ungoethische Einrichtungen gibt – unter anderem das Bauhaus, das hier eine Zeit lang seinen Sitz hatte. Das letzte Wort in der aufschlussreichen Anthologie hat Volker Braun mit der 1972 (also in DDR-Zeiten) entstandenen Elegie Im Ilmtal.  Dieses sehr melancholische Poem enthält dezente Anklänge an Goethes Gedicht An den Mond, ist aber im Ganzen eher auf einen hölderlinschen, also antiweimaranischen Ton gestimmt:

„Auf die Wiese schwärzer tritt, lieber Fluß
Schlage, wie einst einem andern
Die Worte aus meiner Brust.“

Das literarische Wien, das Christine Hehle vorstellt, beginnt mit einem antiken Bericht über den Kaiser Marc Aurel, der in Wien gestorben ist und endet mit Texten von Thomas Stangl und Friederike Mayröcker. Von lebenden Autoren kommt sonst noch Edmund de Waal mit einem Auszug aus seinem Familienerinnerungsbuch Der Hase mit den Bernsteinaugen zu Wort. Davon abgesehen gehört das Wien dieses Bandes ebenso den toten Autoren wie das Weimar im Parallelband (das mag auch Copyright-Gründe haben): von Abraham a Sancta Claras Beschreibung der Pest im Jahr 1679 bis zu Joseph Roths Kapuzinergruft, von einem Sommerlied des Minnesängers Neidhart (im originalen Mittelhochdeutsch mit neuhochdeutscher Übersetzung) bis zu Ingeborg Bachmanns Gedicht Große Landschaft bei Wien.

Auch in dieser Anthologie wird Bekanntes und Erwartbares mit Überraschendem gemischt. Großes Gewicht legt die Herausgeberin auf das Fin de Siècle, das ja zu den Hauptinteressen der kulturell interessierten Wien-Reisenden gehört. Freilich beschreiben einige Texte dieser Zeit die Stadt nicht, in der sie entstanden sind. Das gilt vor allem für Hofmannsthals Gedichte Reiselied und Manche freilich, die man schlechthin nicht als „Wien-Gedichte“ bezeichnen kann. Stadtbuch-Puristen mögen an der Ortsferne dieser Verse Anstoß nehmen, aber da sie andererseits sehr genau zur Atmosphäre des Fin de Siècle passen, muss man da nicht so streng sein.

Es ließe sich noch manches referieren, doch sei hier nur noch ein Aspekt hervorgehoben, der für die Komposition vieler Stadtbücher von Bedeutung ist: Die Blicke der Einheimischen werden gern durch Blicke von außen konterkariert. Und im Kreuzpunkt der beiden Perspektiven entsteht dann ein buntes, vielgestaltiges Bild der Stadt, um die es jeweils geht. Zu den Reisenden, die aus Wien berichten, gehören im vorliegen Band die beiden Norddeutschen Theodor Fontane und vor allem Thomas Mann. Dieser hielt sich im Dezember 1919 zehn Tage lang in Wien auf, um an der Aufführung seines einzigen Schauspiels Fiorenza teilzunehmen. Seine Tagebuchnotizen berichten nichts vom Elend und der politischen Unruhe der unmittelbaren Nachkriegszeit. Stattdessen zeigt sich der Nobelpreisträger in spe nicht ganz zufrieden mit dem Komfort des Hotels Imperial und berichtet von Begegnungen mit der Wiener Kulturwelt. Versehentlich macht er aus der Michaelerkirche eine norddeutsch-hanseatische „Michaeliskirche“ und notiert auch kulinarische Genüsse (die von vielen Wien-Reisenden aller Zeiten lobend erwähnt werden): „Wir aßen angenehm; ein Milchreis mit Chokolade erfreute mich.“ Es ist ein kluger Einfall der Herausgeberin, an späterer Stelle zu zitieren, wie derselbe Thomas Mann 1938 den „Anschluss“ in seinem Tagebuch als „ekelhaften Streich“ kommentiert hat.

Natürlich können derartige Lesebücher keine umfassenden stadthistorischen Kompendien sein. Sie liefern einen Querschnitt aus der Fülle des Vorhandenen, und es versteht sich, dass die Vorlieben des Herausgebers oder der Herausgeberin die Auswahl entscheidend prägen. Mag sein, dass Leser und Leserinnen diesen oder jenen Text vermissen werden und diese oder jene Schwerpunktsetzung für fragwürdig halten. Doch die Subjektivität der Auswahl gehört zum Prinzip einer jeden Anthologie und muss deshalb nicht weiter kritisiert werden.

Und damit kommen wir zu dem abschließenden Urteil, dass beide Bücher allen Stadt- und Literaturliebhabern unbedingt zu empfehlen sind. Neben lustigen, kuriosen, traurigen oder anderweitig lesenswerten Texten enthalten sie auch Stadtpläne und Vorschläge für literarische Spaziergänge. Dieser „Service-Teil“ gehört zur Standardausstattung der Aufbau-Reihe und wird den Stadtspaziergängern gewiss von Nutzen sein, wenn sie sich mit Hilfe der Literatur ihre eigenen Wege durch Weimar oder Wien zu bahnen versuchen.

Christine Hehle (Hg.) Wien literarisch
Stadt-Lesebuch.
Berlin: Aufbau, 2012.
256 S.; geb.
ISBN 978-3-7466-2869-1.

Jens Kristen (Hg.) Weimar literarisch
Stadt-Lesebuch.
Berlin: Aufbau, 2013.
304 S.; brosch.
ISBN 978-3-7466-2914-8.

Rezension vom 11.04.2013

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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