#Roman
#Debüt

Wassermoleküle

Ingrid Maria Lang

// Rezension von Monika Maria Slunsky

„Wie war das damals?“, erkundigt sich die kleine Lili, Protagonistin von Ingrid Maria Langs Debüt Wassermoleküle immer wieder bei ihren Eltern nach deren Kennenlerngeschichte. Dieselbe Frage stellen wir Leserinnen und Leser der erwachsenen Lili, die uns zu Beginn in einer Schwimmhalle, völlig in Gedanken versunken, begegnet. Der Entwicklungsroman erzählt von der angehenden Profischwimmerin Amelie Abgott, die von ihren Eltern Lili, von ihren Freundinnen Foxy genannt wird. Unbedingt möchten wir wissen, wie es zu ihrem Scheitern kommen konnte.

Die Beziehung zwischen Lili und ihrer Mutter Elvira ist keine klassische Mutter-Tochter-Beziehung. Lili soll, wie schon ihre Mutter 1960, Europameisterin werden. Das harte Schwimmtraining für die „Muss-Karriere“ ist ungewöhnlich für einen kindlichen Lebensalltag. So wird Lili regelmäßig daran erinnert, dass Schwimmen und Lesen „zum Gescheitsein“ reichen. In ihrer Familie haben handwerkliche Fertigkeiten einen höheren Stellenwert als schulische. Wenn ihre Klassenkollegen sie wegen ihres erlaubten Fehlens in der Schule oder wegen ihrer sportlichen Figur angreifen, stärkt sich Lili mit dem Glaubenssatz: „Was ich besser kann, besser als alle anderen, ist Schwimmen.“ (84)

Ihre Mutter ist hart, aber herzlich, ihr Vater verständnisvoll, aber unzuverlässig. Die Einstellung Lilis zu der Lebensaufgabe, die ihr in die Wiege gelegt wurde, ist ambivalent. Als Kind stört es sie keineswegs im Schatten der Mutter aufzuwachsen. Dass es im Leben noch etwas anderes als Schwimmen gibt, lernt Lili erst durch den Bruch der elterlichen Beziehung: Der jugendlichen Rebellion fallen nicht nur ihre Haare zum Opfer. Ingrid Maria Lang behandelt Themen wie Pubertät, Trennung, Untreue oder Alkoholismus mit einer „Natürlichkeit“, die es uns möglich macht, einen ungetrübten Blick darauf zu werfen. Unaufgeregt und ohne Übertreibung erzählt die Autorin davon. Mit dem Tod der Mutter wird das Profischwimmen für den Nachwuchsstar sinnlos, denn der Stolz (der Mutter) wäre nicht mehr sichtbar.

Lili steht nicht nur für jene Töchter, die von ihren Müttern zum Gewinnen erzogen werden, sondern auch für eine Generation von Jugendlichen. Ingrid Maria Lang vermittelt das Zeitgefühl der 1970er, zitiert die Souvenirs, allerdings nicht „wie aus einem Geschichtsbuch“, sondern im Rahmen einer alltäglichen Familiengeschichte. „Wassermoleküle“ kann als musikalischer Roman bezeichnet werden. Lilis Lebensgeschichte wird nämlich von zahlreichen Songtiteln begleitet, dies kündigt bereits der vorab zitierte Liedtext „Willst du mit mir gehen“ aus dem Jahre 1971 an.

Eine zweite Frage, die sich leitmotivisch durch den Roman zieht, lautet: „Was wurde aus…?“ Über die Nebenfiguren erfahren wir aus der Ich-Perspektive Lilis viel. Ingrid Maria Lang lässt ihnen, vor allem den Mädchen aus der Clique, Raum für ihre eigenen Erlebnisse. In Roland findet Lili einen Seelenverwandten, jemanden, der es versteht, anders als die anderen sein zu müssen. In Wahrheit hat man die aber Protagonistin von Anfang an ins Herz geschlossen: Entweder freut man sich, sie auf ihrem Weg begleiten zu dürfen oder leidet darunter, ihr nicht helfen zu können.

Das Außergewöhnliche an Ingrid Maria Langs Stil ist der Widerspruch: Die inhaltliche Ebene ist realistisch verfasst, während die Sprache lyrisch anmutet und starke Metaphern enthält. Die Autorin verbindet diesen Gegensatz mit einem sie auszeichnenden Rhythmusgefühl. Da gibt es keine Beschönigungen bei der Trennung der Eltern, kein Einfachsein der ersten Jugendliebe sowie keine Paradelösung für Teenager-Probleme auf der einen Seite. Auf der anderen Seite evoziert Ingrid Maria Lang gefühlvolle (Stand-)Bilder. Die Erinnerungen werden im deskriptiven Stil wiedergegeben und von Dialogen szenisch aufgelockert. Ingrid Maria Lang erzählt im Präsens und verwendet dezent, aber erfreulich, typisch österreichische Ausdrücke wie „stibitzt“. Die Dialoge zwischen Lili und ihren Freundinnen, in denen es um „Dr. Sommer Seiten“ aus dem Magazin BRAVO geht, sind dem jugendlichen Sprachjargon der 70er Jahre angepasst.

Mit einem Augenzwinkern ist jedem Kapitel ein Motto vorangestellt. Das erste und das letzte Kapitel bilden einen Rahmen um die Lebensgeschichte, durch den wir gemeinsam mit der erwachsenen Lili auf ihre Kindheit und Jugend zurückblicken.
Das Wasser ist der symbolische Kern des Romans, entsprechend seinem Titel Wassermoleküle. Ingrid Maria Lang zeigt, dass eine, vielleicht unsere Lebensgeschichte ein Fluss der Erinnerung sein kann, in dem Sinneseindrücke wie Gerüche oder Geräusche unter- und auftauchen. Entscheidend sind das Zulassen sowie das Wiedererleben der Erinnerung, damit sie verarbeitet oder aufbewahrt werden kann.
Gespannt warten wir darauf, welche Geschichte uns Ingrid Maria Lang nach ihrem geglückten Debüt demnächst ans Herz legen wird.

Ingrid Maria Lang Wassermoleküle
Roman.
Wien: Verlagshaus Hernals, 2010.
294 S.; geb.
ISBN 978-3-902744-11-1.

Rezension vom 30.03.2011

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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