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Was wir einander nicht erzählten

Gudrun Seidenauer

// Rezension von Barbara Rieger

Der vierte Roman der Salzburger Autorin Gudrun Seidenauer handelt von der besten Freundin, die gleichzeitig die größte Konkurrentin ist. Er schildert die Dynamik und das Zerbrechen der Freundschaft zwischen zwei Mädchen bzw. jungen Frauen, die in unterschiedlichen Familienkonstellationen aufwachsen.

Als Rahmenhandlung dient ein Wiedersehen in Japan zwei Jahrzehnte nach dem Bruch. In jedem der 24 Kapitel wird in eine Episode der Freundschaft hineingezoomt, werden gemeinsame und einsame Erfahrungen sowie die langsame Annährung beim Wiedersehen entweder aus der Perspektive der einen oder der anderen Freundin geschildert und das keineswegs in chronologischer Reihenfolge. So setzt sich beim Lesen Stück für Stück die Geschichte der Freundschaft mit ihren toxischen Bestandteilen zusammen.

Da ist Marie, die in einem „normalen“ Elternhaus aufwächst: Sie hat eine Mutter, die konventionellen Rollenerwartungen entspricht, einen kaum spürbaren Vater und einen netten Bruder. Bei Mella ist alles anders: Ihre Eltern sind jünger als die der anderen Kinder, der Vater wird beim Vornamen – Alex – genannt und ist Musiker, die Mutter Cordula ist psychisch krank, verbringt die meiste Zeit in einem Sanatorium und begeht schließlich Selbstmord. Bei Cordulas Begräbnis steigen wir in die Geschichte, in die Figuren- und Beziehungskonstellation und in die Gefühlswelt von Marie ein: Marie möchte neben Alex und Mella sitzen und zu ihnen gehören, was beim Begräbnis (und auch sonst) nur bedingt möglich ist.

Im zweiten Kapitel befinden wir uns in Tokio, wo die beiden zufällig den gleichen Kongress besuchen. Seit damals muss einiges passiert sein, denn Marie ist Mella gegenüber äußerst misstrauisch:

„Will sich Mella einfach unverbindlich durch diese Woche hindurchlächeln? Nein, Marie will doch kein Gespräch über vergangene Zeiten. Zumindest will sie keinesfalls, dass Mella über Reden oder Nichtreden bestimmt. Sie ballt die Fäuste unter dem Laken und scheut sich davor einzuschlafen, als wäre Träumen eine Gefahr.“ (S. 26)

Von Anfang an wird Mella – aus Maries Sicht – als die Stärkere der beiden geschildert. Marie bewundert sie oder findet sie arrogant, immer aber fühlt sie sich ihr unterlegen.

Aus Maries Perspektive wird erzählt, wie Mella im zweiten Gymnasialjahr in Maries Klasse kommt, sie sofort von ihr fasziniert ist und sie als beste Freundin auswählt. Die Freizeit verbringen die beiden entweder in Maries oder in Mellas Elternhaus sowie an bestimmten Plätzen in ihrer Heimatstadt. Sie pflegen bestimmte Rituale, Spiele und Wertvorstellungen.

Mella wirkt wild und unerschrocken, scheint sich nicht um die Meinung anderer zu kümmern, nicht einmal um die der eigenen Mutter, die durch ihre Krankheit nicht nur abwesend, sondern auch aggressiv und destruktiv ist. Marie gegenüber kann sie zugeben, ihre Mutter zu hassen.

Mellas wichtigste Bezugsperson ist der Vater Alex, der nicht wie die anderen Väter ist: „Wenn er in der Werkstatt Gitarre oder Klavier spielte, durften die Mädchen zuhören. Wenn sie etwas erzählten, stellte er ihnen Fragen. Meist sagte er nicht viel zu ihren Antworten. Gefragt zu werden war aber ein gutes Gefühl. Im Sommer hörten sie ihm von der Dachveranda aus beim Üben zu. Dort konnte man das Vibrieren der Klaviertöne in den Fußsohlen spüren.“ (S. 65)

Es dauert nicht lange, bis Marie sich in Alex verliebt und er ihr sogar wichtiger wird als die Freundin. Als Mella etwas mit Maries älterem Bruder anfängt, reagiert Marie besitzergreifend und aggressiv und bewirkt sofort einen Bruch zwischen den beiden. Für Marie steht außer Frage, dass Mellas Gefühle nicht so echt sind, wie ihre eigenen für Mellas Vater, mit dem es nach einem seiner Konzerte sogar zu einem Kuss kommt. Dass Mella diese Szene beobachtet, dass sie von der Verliebtheit weiß, diese sie zwar aufregt, sie aber im Unterschied zu Marie nicht eingreift, wird erst viel später aufgelöst.

In Kapitel 10 „Schneekönigin 2“ tauchen wir erstmals in Mellas Perspektive ein, erfahren, wie es ihr mit ihrer Mutter und mit deren Selbstmord geht, erfahren, dass auch sie die Freundin beneidet:

„Als Mella damals die ersten Male bei Marie zu Besuch war, ist ihr deren Mutter wunderbar unkompliziert und wie eine perfekte Mama vorgekommen, sodass sie sie dauernd ansehen musste. Mella liebte ihre Marmorkuchen und gebratenen Äpfel, sie liebte sogar ihre durchschaubare Neugierde, wenn man ihr irgendwelche Geschichten erzählte. (…) Zu Marie sagte sie, Erwachsene würden die Wahrheit ohnehin nicht vertragen. Aber sie wollte auch, dass Maries Mutter sie mochte, und dass sie dafür etwas erfinden musste, war ihr klar “ (S. 117)

Im Unterschied zu Marie gelingt Mella die Täuschung, Marie hat von Mellas wahren Gefühlen wenig Ahnung. In weiteren Szenen wird geschildert, wie das Vertrauen der Freundinnen brüchig wird, wie sie sich von einander entfernen und sich doch auch wieder ganz nahe sind. Als Mella entdeckt, dass Marie sich geritzt hat, sagt sie: „Nie wieder. Versprich es mir. Sonst fange ich auch damit an.“ (S. 142)

Nach dem Selbstmord von Cordula und der Matura geht Mella für ein Jahr nach London, Marie geht in die Stadt (Wien), um zu studieren. Alleine spazieren die Mädchen durch ihre jeweilige Stadt, versuchen sich selbst zu finden und gehen schließlich neue Freundschaften ein. Nach Mellas Rückkehr aus dem Ausland wohnen die beiden in einer WG, Marie ist mit ihrem ersten Freund Werner liiert und versucht sich von Mella abzugrenzen. Als Mella sie bittet, mit ihr die Tagebücher ihrer Mutter zu lesen, weigert sie sich und enttäuscht damit die Freundin:

„So war es also: Marie war fort. Marie, die alles aufgesaugt hatte, was von Mella gekommen war, Marie, die mit ihrem bewundernden Blick auf all das, was Mellas Leben ausmachte, ihre ganze schwankende Existenz mitsamt ihrer verrückten Mutter zu etwas Besonderem gemacht hatte. Marie war gegangen.“ (S. 202)

Mella liest also alleine die Tagebucheinträge ihrer Mutter, die darin vorwiegend Probleme mit der Mutterrolle festhält: „Was ich alles tun könnte, wenn sie nicht da wäre. Besser es mir gar nicht ausmalen. Fühle mich schlecht. Sie kann nichts dafür, sage ich mir immer. Manchmal nützt es nichts.“ (S. 214)

Als Maries Freund Werner sich für Mella zu interessieren beginnt, kann sie sich nicht entziehen und beginnt eine Affäre mit ihm. Dies ist eine der wenigen Stellen, an der deutlich gemacht wird, dass auch Mella sich nach Liebe und Geborgenheit sehnt.

„Weiterküssen, obwohl es schon wehtat. Sein Blick, der etwas Abschätzendes hatte, als sie nackt vor ihm stand, und er gab zu, als sie ihn verdächtigte, sie mit Marie zu vergleichen. Das Waten durch die Laubhaufen im Schlosspark, in den sie nachts eingestiegen waren. Der Aufprall in den Beinen beim Sprung über die Mauer, abgefangen von seinen Armen. Sein Herzschlag und Eulenrufe. Seine schönen Irrtümer: „Du brauchst niemanden.“ (Das war ihr der liebste). Und: „Du hast keine Angst, oder?“ Schnee und Moos und Schweiß und feuchtes Laub. Und als ihr klar wurde, dass es vorbei war. Sie musste es unbedingt schneller bemerken als er.“ (S. 233)

Mella beendet zwar die Affäre mit Werner, sobald sie sein schlechtes Gewissen bemerkt. Doch Marie bemerkt den Betrug und zieht daraus ihr Fazit:“Alex war in gewisser Weise immer Fiktion geblieben, eine Sehnsuchtsgestalt. Werner hingegen war real. Er hatte ihr das Gefühl genommen, durchschnittlich zu sein. Wie sehr sie sich in allen Dingen mit Mella verglichen hatte, immer mit ihr, nie mit jemand anderem, und wie sehr sie es für gegeben genommen hatte, dabei den Kürzeren zu ziehen! Jetzt war die alte Überzeugung wiedergekehrt: Gegen Mella hatte sie keine Chance und würde nie eine haben.“ (S. 242)

So macht Marie nicht nur mit Werner, sondern auch mit Mella Schluss.“Ein paar Wochen oder Monate wartete Mella noch: Bei jedem Läuten des Telefons oder an der Tür schoss es ihr in den Kopf: Das könnte sie sein. Es dauerte lange, bis das nachließ.Der Akutschmerz verging, wie er es immer tat. Der Rest wanderte ab in unzugängliche Zonen, die man nur aus Versehen berührte. Als beste Freundin hat Mella nie wieder jemanden bezeichnet.“ (S. 258)

Zwischen den aus verschiedenen Zeiten und Perspektiven geschilderten Erinnerungen an die Schlüsselmomente der Freundschaft wird das Wiedersehen, Herumstreifen und die vorsichtige Annährung in Tokio eingeflochten, wo wir auch einiges über das Erwachsenenleben der beiden erfahren. Mella hat selbst eine Tochter. Marie arbeitet beruflich mit weiblichen Straftäterinnen:

„Die Männer sperren ab und werfen den Schlüssel weg“, sagt Marie. „Die Frauen hingegen haben immer noch einen unter der Fußmatte versteckt. Und wenn sie meinen, es lohne sich, holen sie ihn hervor. Die nichts erzählen, sind immer die Gefährdetsten, aber auch für die, die viel plappern, gibt es keine Sicherheit.“ (S. 86)

Schließlich beginnen die beiden wieder miteinander zu reden. Marie gibt zu, dass sie in Alex verliebt war und fragt Mella, warum sie gerade etwas mit Werner anfangen musste. Diese Frage taucht als Überraschungsmoment und Cliffhänger in Kapitel 13 auf, aufgelöst wird sie erst am Ende. Das letzte Kapitel „Now or never“ besteht hauptsächlich aus Dialogen und stellt eine vorsichtige Versöhnung dar, zumindest mit der Vergangenheit.

Mit vielen Details erzählt dieser Roman davon, wie man die beste Freundin lieben und brauchen und dennoch verpassen und verletzen kann. Manchmal ist die Beziehung der beiden so innig wie eine Liebesbeziehung. Damit einher gehen Besitzansprüche und Vertrauensbrüche, vor allem, wenn die Liebe zu Männern ins Spiel kommt. Aber auch die Liebe bzw. nicht vorhandene Liebe der unterschiedlichen Mütter spielt eine große Rolle.

Das Handeln der beiden Figuren wird nachvollziehbar geschildert, man kann Empathie mit der „schwachen“ Marie haben, die sich gegenüber der „starken“ Mella behaupten will, aber auch mit der unnahbaren Mella, die nach außen hin zwar stark, aber letztlich genauso verletzlich und abhängig von der Bewunderung ihrer Freundin ist.

Besonders interessant ist dabei die Umkehrung von Stärke und Schwäche, wenn Mella sich beispielsweise anstandslos verbieten lässt, etwas mit Maries Bruder zu haben, selbst aber nicht in Maries Verliebtheit zu ihrem Vater eingreift.

Obwohl manches absehbar und sogar ein wenig kitschig sein mag, ist der Einblick in die Gefühlswelten der beiden Mädchen / jungen Frauen sowie in ihre Lebenswelten gut gelungen und trotz der inhaltlichen Schwere wunderbar leicht zu lesen.

Was wir einander nicht erzählten ist die spannende Chronologie einer innigen und gleichzeitig toxischen Freundschaft – mit Machtkämpfen, Vertrauensbrüchen, Neid und der Frage, ob und was man verzeihen kann.

Was wir einander nicht erzählten.
Roman.
Wien: Milena Verlag, 2018.
264 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-903184-24-4.

Homepage der Autorin

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 13.11.2018

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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