#Lyrik

Was verschweigt die schwarze Witwe?

Gerhard Rühm

// Rezension von Claudia Peer

Der Rebell von einst ist sich wunderlich treu geblieben und setzt nach wie vor auf ver-rückte Buchstaben. Nun aber, im Alterswerk – falls der Begriff heute bei einem noch nicht ganz Fünfundsiebzigjährigen schon erlaubt sein sollte – macht er sich so etwas wie eine Gehhilfe zu Nutze, nämlich das Anagramm. Oder besser gesagt, er bewegt sich im Rahmen dessen, was das Anagramm erlaubt. Was das ist, erklärt uns Gerhard Rühm auch gleich in einem – seinen poetischen Erzeugnissen wie üblich vorangestellten – theoretisch-reflektiven Text: „als anagramm im strengen sinn bezeichnet man die umstellung der buchstaben einer kurzen textvorlage, meist eines satzes, zu einer neuen wortfolge, wobei kein buchstabe fehlen oder überzählig sein darf.“

Die Sache hat jedoch einen Haken, denn „beim vergleichenden lesen ist die korrekte erfüllung dieses prinzips überprüfbar, beim blossen hören allerdings nicht.“ Und so muss sich der Leser, bevor er seinen Spielsinn aufnehmen kann, erst noch durch einige ihm teils auch schon bekannte Erörterungen durcharbeiten. Spätestens seit dem Erscheinen von Rühms zu meinen auditiven texten 1970 weiß er von der zwischen Orthographie und Aussprache bestehenden Diskrepanz und dass wir beim „sprachhören“ „von der rezeptionsebene des graphems zu der des phonems“ wechseln. Analog dazu führt Rühm nun – und das ist wohl das Neue – im Unterschied zum „schriftanagramm“ den Begriff „sprechanagramm“ ein. Das Schriftanagramm wird gelesen, das Sprechanagramm vorgetragen. Das eine ist visuell geprägt, das andere auditiv. Hier geht es um Buchstaben, dort um Laute. Entsprechend ist auch der Fundus, dem Rühm seine Vorlagen entnimmt: „schlagzeilen“, die man liest, und „sprichwörter“, die mündlich überliefert werden.

„lauschangriff im taxi“ wäre demnach eine Schlagzeile, aus der sich nach Umstellung der Buchstaben für Rühm der Zweizeiler „max griff in lila, schaut- / irma fix fing sau, lacht“ ergibt. Oder „rentner totgefahren“: Hier hat Rühm immerhin acht Varianten gefunden, wobei in der vorletzten dummerweise „ernten neger orthaft“ herausgekommen ist.

„zwei kalte Steine, die sich reiben, fangen auch feuer“ ist ein Sprichwort. Umgestaltet heißt es dann „acht teufel kamen freien, ihr bauch scheisst weise dinge.“ Hier haben wir es mit einem Sprechanagramm zu tun. Um ein solches herzustellen, überträgt Rühm den Ausgangstext in eine eigens dafür von ihm entwickelte „alfabetische lautschrift“: „a = nur schwach angedeutetes a, wie bei der nachsilbe -er (vater), c = sch, q = ng (lang), x = ch, z = stimmhaftes s (sonne)“. Das fertige Ergebnis wird abschließend in die übliche Schreibweise zurückübertragen, „der leichteren lesbarkeit halber“. Keine Angst, der Leser dieser Sprechanagramme muss sich nicht selber den Mühen aufwändiger Transkriptionen unterziehen. Rühm liefert sie uns gleich mit und das obige hört/sieht sich dann folgendermaßen an: „tswai kalte ctaine, di zix raibm, faqen aux foüa / axt toüfl kamen frain, ia baux caist waize diqe.“

Die 3. Abteilung des schmalen Büchleins von 81 Seiten widmet sich der Herstellung von Namensanagrammen, „die naturgemäss schriftanagramme“ sind und sich stets und besonders im Barock großer Beliebtheit erfreuten. Hier ist der Leser angehalten selber Buchstaben zu vertauschen, um herauszufinden, welcher „p. w.“ sich da zum Beispiel hinter einer „werbepleite“ versteckt oder welcher „g. b.“ im „gurusterben“ aufgeht. Nach und nach entpuppen sich daraus alte Freunde von Gerhard Rühm aus der Zeit der Wiener Gruppe und des Aktionismus, allen voran er selbst. Und schauen wir uns doch die Buchstaben seines Namens an. Springen uns da nicht sofort Kombinationen wie Ruhm und Ehre entgegen? Und liest sich das nicht wie die Inschrift auf einem Epitaph für „g. r.“? „mag er ruh? dreh / uhr gerad. mehr / grad ehre, ruhm.“

Auffassungen allerdings, die dem Namensanagramm einen Aussagewert über die betreffende Person zuschreiben, findet Rühm „mehr als zweifelhaft“, denn „die mehr oder weniger erfreulichen wortfindungen sind oft aus dem materialzwang erwachsene unterstellungen, die eher etwas über die gesinnung des anagrammierers verraten“, wobei nicht auszuschließen ist, dass dieses „mehr oder weniger vergnügliche gesellschafts- beziehungsweise einsiedlerspiel (…) zufällig auch charakterisierendes erbringen kann“. Eine ähnlich kritische Distanz hegt Rühm „als aufgeklärter zeitgenosse“ auch gegenüber den Phänomenen der Buchstabenmagie und den Riten des Aberglaubens, wozu er auch die Religionen zählt, deren transzendierende Funktion die Kunst übernommen habe. So sollen seine „anagrammatischen exegesen der zehn gebote“ in der 4. Abteilung des Büchleins die Ergebnisse magischen Anagrammierens in Frage stellen, „indem sie ursprünglich magische nun als poetische praktiken für artifizielle spachspiele nutzen“ Unter anderem kommt das dabei heraus: „3 / du sollst den tag des herrn heiligen. / geilst nest rund, also dehn glied sehr.“ oder „8 / du sollst kein falsches zeugnis geben. / faun giesst zielgeld neben’s kussloch.“

Zu guter Letzt greift Rühm zur Schere und macht Schnitte. Das heißt, dass er immer dem gleichen starren Prinzip folgend zehn kleine schwarz-weiß Fotos zerlegt und anders zusammengesetzt hat, die als von ihm so genannte Bildanagramme die 5. und letzte Abteilung füllen. Kühl und technisch exakt bieten sie – trotz allzu vieler Bäuche und Busen – wenig Sensationelles und halten die Betrachterin – wohlbemerkt mit kleinem i – eher auf Distanz. Unwillkürlich muss sie an einen Satz von Unica Zürn denken, die im Haus der Krankheiten ihren Körper mit einem Haus vergleicht, in dem die verschiedenen Körperteile wie Zimmer betreten werden können. Mit Blick auf ihr eigenes zeichnerisches Schaffen schreibt Zürn dort: „Den Saal der Bäuche und auch die Busenstube vermeide ich sorgfältig.“ Nun ist dieselbe Unica Zürn wohl auch die unbestrittene Meisterin des Anagramms im 20. Jahrhundert und es ist VALIE EXPORT, bei der es dann in direkter Auseinandersetzung mit Zürn heißt: „Die Suche in einem Satz, nach einem neuen Sinn, die anagrammatische Tätigkeit selbst, ist der Ausweg aus dem Haus des Körpers, dem versperrten Leben.“ Den Körper lesen und neu schreiben – genau da stellt sich die innovative Kraft einer VALIE EXPORT ein, die ja bekanntlich ihre eigenen Werke ganz allgemein als „mediale Anagramme“ bezeichnet: Beispiele wie die im Ausstellungskatalog Mediale Anagramme abgedruckten Filmstills aus Syntagma von 1983 machen deutlich, wie sehr sich Rühm dagegen einfach nur damit begnügt, die Augen ein wenig kitzeln zu wollen oder einfach nur zu provozieren – aber das gelingt heute nicht mehr und ist wohl auch zu wenig. „Das Verfahren ist nämlich alles“, wie Anton Thusweiler dem „Ingenieur in der Literatur“ bereits vor fünfzehn Jahren bescheinigte. Und „was verschweigt die schwarze Witwe? / wer wiege warf schwitzt wachsseide.“

Gerhard Rühm Was verschweigt die schwarze Witwe?
schrift-, sprech- und bildanagramme.
Graz, Wien: Literaturverlag Droschl, 2004.
83 Seiten, broschiert.
ISBN 3-85420-655-0.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 18.11.2004

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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