#Roman

Was kommt

Thomas Stangl

// Rezension von Gerald Lind

Thomas Stangls Prosa handelt von der Hintergehbarkeit von Geschichte, vom Ineinanderübergehen von Körpern und Räumen, vom Verschwimmen der Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit und nicht zuletzt von der Auflösung des Individuums. Schon in seinen ersten beiden Romanen, „Der einzige Ort“ (2004) und „Ihre Musik“ (2007), war es dem Autor gelungen, dieses ehrgeizige literarisch-ästhetische Projekt erzähltechnisch gekonnt umzusetzen. Dem tragenden Prinzip der Verschränkung zweier Figuren, zweier Lebenswege und -narrative ist Stangl auch in seinem neuen Buch „Was kommt“ treu geblieben. Doch anders als in den beiden Vorgängerbänden tritt nun ein weiteres, im Grunde logisches Moment in den Mittelpunkt, nämlich die Destabilisierung der letzten unverrückbaren Opposition, der Grenze zwischen Lebenden und Toten.

Mit der Thematisierung von Untoten, Revenants oder Wiedergängern steht Stangl in der Tradition des romantischen Schauerromans. In E.T.A. Hoffmanns „Die Elixiere des Teufels“ (1815/16) ist dieses Motiv des Doppelgängers oder Rückkehrers erstmals in der Literaturgeschichte zentral, wobei unklar bleibt, ob die dargestellten Ereignisse real beziehungsweise aus schizophrenen oder von Drogen herbeigerufenen Bewusstseinszuständen entstanden sind. Die von Hoffmann vorgenommene Privilegierung des Uneindeutigen vor dem Eindeutigen, der Bedeutungsvielfalt vor der Bedeutungseinfalt ist aber nicht nur für die Romantik, sondern auch für die Postmoderne kennzeichnend. Der studierte Philosoph Stangl schiebt mit seinen Schreibstrategien die beiden häufig als verwandt bezeichneten Zeiten ineinander, verknüpft dekonstruktivistische, an Jacques Derrida geschulte literarische Schreibweisen mit romantischer Motivik und kommt zum Schluss: „Die Wirklichkeit ist Lüge.“ (S. 56)

Neben diesem in alle Sätze und Wörter, in alle Figuren und Schauplätze hineingewobenen Programm gelingt es Stangl in jedem seiner Romane, auch wichtige Geschichten zu schreiben. Geschichten, die von der meist schmerzvollen Dialogizität von Körpern und/in Räumen und von der Unzulänglichkeit der Zeit handeln. „Was kommt“ behandelt die jeweils entscheidende Lebensphase der beiden Hauptfiguren Emilia Degen und Andreas Bichler. Während die Realschülerin Emilia Degen – bekannt als ältere Frau aus „Ihre Musik“ – im Frühjahr 1937 den jüdischen Kommunisten Georg kennen lernt und mit ihm den „einzige[n] Sommer ihres Lebens“ (S. 118) verbringt, flüchtet sich der etwas jüngere und übergewichtige Vollwaise Andreas Bichler in den späten 1970er Jahren in die Welt der Literatur. Gemeinsam ist beiden Figuren das Zusammenleben mit ihren Großmüttern, die Außenseiterposition in der Schulklasse, der Wohnort Wien und eine von verschiedenen Ebenen des Schmerzes und der Fremdheit bestimmte Körperlichkeit.

Stangl hat sich aber davor gehütet, einen kompositorisch völlig ausgewogenen, einzig an Analogien oder zeitversetztem Doppelgängertum interessierten Roman zu schreiben. Emilia findet in ihrer kurzen glücklichen Zeit Auswege, „überall, in den Kulissen dieser Stadt, gibt es Eingänge in die wirkliche Welt, Verstecke, ausgeschnittene Räume“ (S. 54-55), sie weiß in Anbetracht ihrer verbotenen Liebe zu einem Kommunisten im Austrofaschismus: „die wirklichere Welt ist die Welt des Verbotenen, kleine Inseln, ausgeschnittene Orte, die sich ausdehnen können, über Grenzen hinweg ins Feindesland“. (S. 63) Andreas hingegen „ist jemand, den jeder Schritt in falsche Räume führt, alle Räume sind falsch“ (S. 46), er sagt nichts, wenn er soll, und sagt das, was man niemals sagen darf: „Ich mag den Kreisky auch nicht, mit seiner Nase, sagt er. Mit seiner Nase? fragt Cora. Seiner Judennase.“ (S. 129) Diese antisemitische, von der Großmutter aufgeschnappte Aussage verweist auf das, was im Roman erst kommt, in der Zeit aber schon passiert ist, ein Prinzip, wie es auch der Geschichtslehrer von Emilia formuliert: „Geschichte heißt nicht, all das ist aus und vorbei, sagt Doktor Steinitz, Geschichte heißt, das kommt erst.“ (S. 153)

Was kommt ist die Katastrophe, im Scheitern werden die so unterschiedlichen Hauptfiguren tatsächlich zu Doppelgängern. Kurz nach der Machtübernahme der Nazis „verschwindet“ Georg, auf die Buchhandlung seiner Eltern wird „Ist in Dachau“ (S. 153) geschmiert und Emilia trifft in seiner ehemaligen Wohnung die neu eingezogenen „Ariseure“ an. Im Wien der Kreiskyjahre wiederum findet Andreas Rettungswägen vor dem Haus und eine leere Wohnung vor, seine Großmutter ist gestorben und „er denkt nur noch, alles ist egal, auch sein Körper ist egal, er kann jetzt tun oder nicht tun, was immer er will, es wird keine Bedeutung mehr haben, es gibt keinen Rahmen mehr dafür und keinen Punkt, auf den es sich beziehen würde.“ (S. 141-142)
Nach diesen Erfahrungen sind beide Figuren, wie es schon ganz zu Beginn des Romans über Emilia Degen heißt, „noch am Leben und doch schon lange tot“ (S. 9). Ab diesem Zeitpunkt legen sich Tod und Leben für Emilia und Andreas immer mehr ineinander, werden ununterscheidbar, wie im Prolog von „Was kommt“ angedeutet: „Vielleicht hat er (schläfrig und glücklich) die Verwandlung gar nicht gemerkt, vielleicht will er auch gar nicht mehr zurück zu dem, was er für sein Eigenes gehalten hat, auf die Seite der Lebenden, nicht in diesem Moment.“ (S. 5)
Und schlussendlich, aber das muss offen bleiben, ist nicht fixierbar, ist nur eine möglicher Ausgang im vielschichtigen Labyrinth dieses rätselhaften Romans, gehen auch Emilia Degen und Andreas Bichler ineinander über, holt der eine die andere auf seine Seite, wo alles Erinnerung oder alles vergessen ist.

Thomas Stangl Was kommt
Roman.
Graz, Wien: Droschl, 2009.
184 S.; geb.
ISBN 9783854207528.

Rezension vom 17.02.2009

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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