Der Autor ist sich dessen sehr wohl bewußt, aber er weiß auch, wie wichtig es ist, sich solchen Fragen zu stellen, die für eine ganze Reihe von Menschen, die es mit Texten zu tun haben, von Relevanz sind: für LiteraturkritikerInnen, LehrerInnen, SchriftstellerInnen, LiteraturwissenschaftlerInnen, Subventions- und PreisgeberInnen und viele andere mehr. Und es sind Fragen, denen man meist etwas hilflos gegenübersteht. Die Antworten schauen dann auch in der Regel ebenso hilflos aus und sind voll von Unsicherheiten und nicht getroffenen Entscheidungen, die man auf das Resümee „Nichts Genaues weiß man nicht“ reduzieren könnte.
Gelfert hat nun nicht nur den Mut, die Frage der Grenze zwischen gut und schlecht auf dem Gebiet der Literatur und der Kunst ganz allgemein aufzuwerfen, sondern scheut ebensowenig vor klaren Grenzziehungen anhand von Beispielen zurück. (So läßt er etwa an Bölls „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ und an Grass‘ „Im Krebsgang“ kein gutes Haar, andere Texte lobt er ganz ausdrücklich.) In den vielen Beispielen, an denen Gelfert seine Thesen exemplifiziert, liegt eine große Stärke des Buches, denn so bleiben die Aussagen nicht im Allgemeinen stecken; vielmehr werden handfeste Orientierungen für LeserInnen ausgearbeitet. Eine zweite große Stärke ist die Breite der Fragestellung, denn Gelfert deckt nicht nur die Frage der literarischen Wertung ab, sondern kümmert sich gleichsam en passant auch um allgemeinere Fragen ästhetischer Wertung oder dem Problem, warum wir überhaupt lesen. Daß ich das Buch gerne gelesen habe, liegt nicht zuletzt -die dritte große Stärke – an seiner Lesbarkeit: Ein flüssiger Stil ohne Fußnoten und sonstigem akademischen Schnickschnack macht das Lesen zu einem Vergnügen; ein Kauf sei also allen Literaturinteressierten wärmstens anempfohlen, wobei auch auf die exzellente Auswahlbibliographie verwiesen werden soll.
Was steht denn nun drin in dem Buch? Einem allgemeinen ersten Kapitel, welche das Feld der Untersuchung aufspannt (Um was für Literatur geht es? Was macht Literatur zur Kunst? Was bewirkt Kunst in uns? Warum gibt es überhaupt Kunst? Macht uns gute Literatur klüger? etc.) folgt schon eine erstes ‚Anwendungskapitel‘: Anhand des Gedichtes „Der römische Brunnen“ von C. F. Meyer, von dem es mehrere Vorstudien gibt, wird gezeigt, was ein gutes Gedicht ausmacht. Kapitel 3 fragt nach dem „Grund des Vergnügens an Kunst“, Kapitel 4 geht den beiden für die Kunst grundlegenden Begriffen „Ausdruck“ und „Darstellung“ nach, Kapitel 5 kümmert sich um „Kriterien der ästhetischen Wertung“, Kapitel 6 um den „Stil“ und die Kapitel 7-9 fragen danach, was ein gutes Gedicht, eine gute Erzählung und ein gutes Drama ausmachen. (Die drei letztgenannten Kapitel stellen immer ein Musterbeispiel an ihr Ende: Rilke, Grass und Miller.) Dann folgen noch Überlegungen zum „Dichter als Weltdeuter“, zu Fragen, ob gute Literatur schwierig sein muß, was anspruchsvolle von unterhaltender und trivialer Literatur trennt, Überlegungen zu Kitsch, Pornographie und zum Begriff „Weltliteratur“ sowie zur deutschen Literatur und zum Thema Kanonbildung.
Man sieht an dieser Auflistung den breiten Anspruch des Buches, wobei vielleicht ein bißchen weniger doch mehr gewesen wäre, denn erstens kann Gelfert an einigen Stellen bestimmte Probleme nur oberflächlich anreißen, zweitens sind bestimmte Fragen – etwa, was Literatur in uns bewirkt – nur am Rande für die Themenstellung des Bandes von Bedeutung. Und gleichzeitig ist das Buch auch ein bißchen reduktionistisch – und damit wäre ich nun doch bei zwei grundlegenden Mängeln angelangt:
1) Auf die Frage nach den Motiven der Kunstproduktion und des Lesens beschränkt sich Gelfert zu stark auf eine psychologisierende Argumentation, die mit Trieb und Triebbefriedigung, mit Erwartungs- und Befriedigungslüsten, Emotion und Stimulanz, mit Abfuhr von Affektstau etc. arbeitet – das geht soweit, daß die „schönen Künste“ fast ausschließlich auf „Sublimierungen von Sexualität“ (182) reduziert werden. Mit einem Wort: Das subjektive Erleben wird in den Vordergrund gerückt. Auch wenn dieses Erleben durchaus wichtig sein mag, so verkennt Gelfert doch den sozialen Charakter künstlerischer Symbolsysteme, verkennt dadurch tendenziell auch die Kräfte des (sozialen) Diskurses – des Kontextes und der LeserInnen-Seite – bei der Beantwortung der Frage, was gute Literatur ausmacht. Daß sich das Urteil über ein bestimmtes Werk im Laufe der Zeit ändern kann und warum, davon gibt es nur wenig in diesem Buch; ebensowenig davon, daß es Kriterien der Unterscheidung zwischen gut und schlecht gibt, die nicht Objektqualitäten betreffen, oder daß Literatur nicht nur „interesseloses Wohlgefallen“ (Kant) auslöst, sondern auch Informationen enthält und unseren gesellschaftlichen Umgang mit der Welt nicht nur thematisiert, sondern auch verändert.
2) Darauf ist auch die zweite Schwäche des Buches zurückzuführen: Wenn man sich wie Gelfert auf Textmerkmale konzentriert, werden die Kriterien zur Unterscheidung guter von schlechter Literatur fast zwangsläufig in einer bestimmten Art und Weise idealistisch und klassizistisch. Das heißt, Gelferts Argumentation kann eine bereits klassisch gewordene Literatur begreifen helfen: Shakespeare-Sonette, Goethe-Dramen oder Rilke-Gedichte (wobei man hinzufügen muß, daß sich Gelfert auch erfolgreich an Beckett, Joyce, Kafka, Bernhard oder Jelinek herantraut). Aber warum der „Flaschentrockner“ oder das „Pissoir“ von Duchamp Ikonen des Kunstmarktes geworden sind oder was den Text von Handke „Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27.1.1968“ – in dem die Nachnamen der Spieler der Mannschaft Nürnbergs für das Bundesligaspiel vom 27.1.1968 aufscheinen, und zwar genau so, wie sie in jeder beliebigen Tageszeitung auftauchen könnten – zu einem Gedicht macht, kann (oder vielmehr könnte) Gelfert nicht beantworten. Zu stark orientiert sich sein Verständnis von Kunst an einer durch Kant beeinflußten Autonomie-Ästhetik. Gelfert sagt auch selbst, daß „ein Kunstwerk ästhetischer umso wirksamer [ist], je weniger es in die reale Wirklichkeit hineinwirkt“ (43).
So dominieren bei den Kriterien der ästhetischen Wertung jene, die sich auf Textmerkmale beziehen: Vollkommenheit, Stimmigkeit, Expressivität, Welthaltigkeit, Allgemeingültigkeit, Interessantheit, Originalität, Komplexität, Ambiguität, Authentizität, Widerständigkeit, Grenzüberschreitung, sowie „das gewisse Etwas“ (sic!). Das sind natürlich wichtige Kriterien, und den allergrößten Teil literarischer Produktion kann man damit auch trefflich beurteilen. Aber es fehlt doch ein ganz kleines bißchen, mit dem man etwa die Qualität von Celan-Gedichten erklären könnte. An der Erläuterung Celans scheitert Gelfert auch – aber vielleicht würden da alle anderen KritikerInnen auch scheitern.
Die genannte Autonomie-Ästhetik schimmert an einigen Stellen – beinahe unfreiwillig, wie es scheint – durch: So suggeriert Gelfert etwa, daß Grass‘ Texte zu dem Zeitpunkt an Qualität verloren haben, als sich der Autor in die deutsche Politik einzumischen begann (126f.). Für die Harry Potter-Romane hat der Autor nur das Stichwort „Surrogatliteratur“ übrig (109) und an anderer Stelle greift er zu einer Analogie mit einem Sänger, bei dem „die Wirkung seines Vortrages mit der Qualität seiner Stimme [steht und fällt]. Ist sie matt, gepresst, rau oder ungleich in den tiefen und hohen Registern, nützt die beste Interpretation des vorgetragenen Liedes nichts, es wird dem Publikum nicht gefallen“ (78) – wenn dies zuträfe, dann gefiele auch Rod Stewart, Janis Joplin, Joe Cocker, Mick Jagger und sehr viele andere mehr ebensowenig. Und mit der Auffassung, daß das 20. Jahrhundert gezeigt habe, „dass Menschen, deren geistige Diät aus Hegel, Marx und Nietzsche bestand, für die Menschheit weit gefährlicher sein können als solche, die sich mit Mickey Mouse und Disneyland begnügen“ (73), lehnt sich der Autor nun doch zu weit aus dem Fenster. (Adornos Theorie, die für gute Kunst Widerstandspotential einfordert und zu einem der wichtigsten Eckpfeiler der Ästhetik geworden ist, bezeichnet der Autor als „Einschüchterungskitsch“ (204).)
Wenn gute Literatur also mit der Welt nichts zu tun habe – und man auch nicht mehr an Schillers Hoffnung glauben will, der Mensch würde durch Ästhetik veredelt -, dann fragt man sich ja wirklich, warum man lesen sollte. Und das fragt sich Gelfert wohl auch, wenn er gegen Ende des Buches schreibt: „Der gesunde Menschenverstand spricht dafür, dass es für den Einzelnen wie für die gesamte Gesellschaft entschieden nützlicher ist, sich in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Technik auszukennen als in der Weltliteratur von Homer bis zur jüngsten Neuerscheinung.“ (195). Auch wenn er diese Auffassung des gesunden Menschenverstandes zu widerlegen versucht, dann gelingt es ihm doch nicht ganz – wie auch, wenn der Kunst der Nutzen implizit abgesprochen wird.
Die Aufzählung der – aus meiner Sicht – Schwächen des Buches ist nun doch länger geworden, als es das Buch verdient hat, denn es bleibt trotzdem ein unverzichtbares Einführungswerk in die Probleme ästhetischer Qualität und Wertung. Wie gesagt, ein Teil der literarischen Produktion kann durch Gelferts Buch einer schlüssigen Beurteilung zugeführt werden, und das ist eine Leistung, für die man den Autor nur beglückwünschen kann. Und wenn er seine ästhetischen Prämissen deutlicher markiert hätte, dann würde ihm auch niemand vorwerfen können, daß er einen – wesentlichen – Teil literarischer Texte nicht zu beurteilen vermag.