#Sachbuch

Warum Lesen glücklich macht

Stefan Bollmann

// Rezension von Kurt Bartsch

Zugegeben: Der entschieden behauptende Duktus des Titels des vorliegenden (zuerst 2007 im Münchner Sandmann-Verlag erschienenen) Büchleins weckt von vornherein den nicht ganz von der Hand zu weisenden Verdacht, man wolle auf der ökonomischen Erfolgswelle der Lebensratgeberliteratur mitschwimmen, vor allem auch vom Boom jener Publikationen profitieren, die sich der „Glückshysterie“ verdanken – als solche  diagnostiziert vom deutschen Philosophen Wilhelm Schmid, der trotz Seriositätsanspruch allerdings auch selbst einschlägige dem Trend folgende Beiträge leistet (hier: Wilhelm Schmid: Glück. Alles, was sie darüber wissen müssen, und warum es nicht das Wichtigste im Leben ist. Frankfurt/M., Leipzig: Insel 2007, S. 7).

(Fiktionale) Literatur als Wegweiser zum Glück? Nun denn, Bollmann ist ein offensichtlich begeisterter Vielleser, dem das Lesen zweifelsohne Vergnügen bereitet (und auch so manchen Glücksmoment bereithalten mag). Er ist aber eben auch zu belesen und zu klug, um nicht zu wissen, dass sich „Glück“ nicht allgemeingültig definieren lässt und dass er keine glücksverheißenden „Rezepte“ (S. 107) anzubieten vermag, weil Glücksempfinden im Subjektiven gründet. An dieser Problematik muss jeder Versuch scheitern, Empfehlungen zur Glücksfindung zu formulieren und Glücksspender (wie diesfalls der Literatur) auszumachen. Bollmann spricht denn auch an einer Stelle vorsichtig von „Glückspotentiale[n]“ (S. 112), die die Lektüre fiktionaler Literatur bieten könne – mag sein gelegentlich, aber generell, wie der Titel suggeriert? Und er kennt selbstverständlich die grundlegende Skepsis des vor der Verwechslung von Literatur und Leben warnenden Franz Kafka, der in einem berühmten, viel und eben auch von Bollmann zitierten Brief an seinen Freund Oskar Pollak vom Jänner 1904 die Erwartungshaltung, Bücher sollten glücklich machen, emphatisch als Missverständnis abtut: „Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben […] ein  Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns“ (zit. n. S. 120). Diesem Zweifel an Literatur als Glücksspender ist kaum etwas hinzuzufügen. Und doch suggeriert Bollmann, dass Lesen beglücke.
In welche Richtung seine Vorstellungen gehen, lassen am deutlichsten drei der vier (typografisch hervorgehobenen) Leitsätze (je einer pro Kapitel des Buches) erkennen. Abgesehen von der Begründung, dass Lesen uns glücklich mache, weil es die evolutionsgeschichtlich alte menschliche Leidenschaft des Jagens und Sammelns aufleben lasse (vgl. den Leitsatz S. 73), zielen sie auf Selbsterkenntnis, Sinngebung, Offenheit für Wandel (vgl. Leitsätze S. 23, 55, 113) als glücksverheißendes Resultat der Prüfung des Selbst an fiktiven Charakteren und der Auseinandersetzung mit unbekannten, jedenfalls von den eigenen mehr oder weniger abweichenden Vorstellungen. Literatur biete die Möglichkeit, mit Max Frischs Gantenbein gesprochen, „Geschichten“ anzuprobieren „wie Kleider“ (zit. n. S. 112). So offeriere Lesen „ein Aussteigen aus den gewöhnlichen Lebenszusammenhängen, ein Einsteigen in vollkommen neue Lebenszusammenhänge oder auch ein Umsteigen in alternative Lebenszusammenhänge“ (ebda). Selbsterkenntnis, Schärfung des Bewusstseins, Veränderung der Weltsicht, Sensibilisierung der Wahrnehmung, Steigerung der Aufmerksamkeit, Horizonterweiterung etc.: Diese nicht zu bezweifelnden Wirkungen von Lektüre machen einen Gutteil der Faszination des Lesens aus, aber machen sie auch glücklich? Nochmals mit Kafka geantwortet: Es ist eine falsche Erwartungshaltung gegenüber Literatur. Wer liest einen Roman von Stendhal, Fjodor M. Dostojewski, Franz Kafka, Elfriede Jelinek, um glücklich zu sein? Es wäre denn auch passender, würde Bollmann im Titel seines Büchleins nicht Glücksvermittlung durch Lesen behaupten, vielmehr fragen, was die Faszination des Lesens ausmache und welche Wirkung sie erzielen könne, wovon die Abhandlung, wie erwähnt, ausführlich handelt.

Bollmann hat (mit Bezug auf Virginia Woolfs „common reader“ und durchaus nicht abwertend gemeint) den so genannten „gewöhnlichen Leser“ (S. 12) im Blick. Das ist gut und legitim. Aber es gibt unterschiedliche Arten zu lesen, von (keineswegs zu verachtendem) naivem, identifikatorischem bis zu hochgradig reflektiertem Lesen. Dass solches von theoretischen Vorannahmen mitgeprägt ist und dass diese wiederum den Blick auf die Texte verstellen kann, versteht sich. Nicht zu verstehen jedoch ist die grundsätzliche Theoriefeindlichkeit Bollmanns. Es ist hier nicht der Ort, eine Lanze zu brechen für (literatur)theoretische Reflexion, es sei auch nicht jenen (zweifelsohne nicht seltenen) wissenschaftlichen Abhandlungen das Wort gesprochen, in denen nicht die jeweilige Theorie einer erweiterten Wahrnehmungsmöglichkeit eines ästhetischen Objekts dient, vielmehr Texte gewissermaßen „missbraucht“ werden, um Theoreme welcher Herkunft auch immer zu bestätigen. Aber Theoriefeindlichkeit ist schon deshalb nicht angesagt, weil gerade den interessantesten literarischen Werken in hohem Maße poetologische, ihrerseits theoreiegeleitete Reflexionen eingeschrieben sind. Dies gilt nicht nur, aber insbesondere für von Bollmann geschätzte und zitierte Autoren der Moderne wie Marcel Proust, James Joyce oder Robert Musil. Die von Bollmann dem Lesen zurecht zugeschriebene Möglichkeit, bewusstseinserweiternd und -steigernd zu wirken, bedeutet ja auch eine Möglichkeit der Steigerung des Reflexionsniveaus der Lesenden. Und keineswegs bedeutet theoriegeleitete Sicht zwangsläufig die Eskamotierung der „emotionale[n] Komponente des Lesevorgangs“ (S. 61).

Die Belesenheit Bollmanns beschert zahlreiche interessante Blicke auf die Welt der Literatur, in die Lesende eintauchen, auf den Einfluss der Kulturtechnik des Lesens auf die Entwicklung der Menschheit und die existenzielle Bedeutung des Lesens. Manches ist nicht oder kaum bekannt, wie die einleitende Geschichte des jungen Amerikaners Joseph Paccione, der – im Alltagsleben gescheitert – sich in den deutschen Wald zurückzieht, um zu lesen (S. 11), die eine oder andere Geschichte mag man vermissen, die von hoher Erwartungshaltung gegenüber dem Lesen zeugt, wie Elias Canettis eindrucksvolle Erzählung in der Geretteten Zunge: Der geradezu besessene Leser Canetti berichtet da von seiner Bereitschaft als Fünfjähriger seine Cousine zu ermorden, weil sie sich weigerte, ihn das Lesen zu lehren, von dem sich der kleine Elias seiner Jahrzehnte später niedergeschriebenen Erinnerung zufolge tatsächlich Glück erwartete. Dass Bollmann zwangsläufig nur einige wenige Geschichten über das Lesen auswählen konnte, versteht sich. Das kann ihm auch nicht vorgehalten werden. Was jedoch stört sind Binsenweisheiten, wie die, dass Geld nicht glücklich mache. Dass sich mit der Lesegeschwindigkeit die Lesequalität ändert, ist ebenso wenig eine nennenswerte Erkenntnis wie die von der Differenz zwischen der Lektüre fiktionaler und wissenschaftlicher Literatur. Überrascht wird wohl niemand von Bollmanns Geständnis sein, dass „auch“ er seine Texte auf dem PC schreibt und dass er dessen Möglichkeiten wie die Suchfunktion schätzt?

Glücklich macht die Lektüre von Bollmanns Büchlein nicht, unglücklich auch nicht, es ist über weite Strecken amüsant, wozu auch eine Reihe durchaus passender Illustrationen beiträgt, mit Bildern von Lesenden in unterschiedlichen Situationen, von einem attraktiven Blick in eine alte Oxforder Bibliothek oder auf ein Regal mit schönen alten ledergebundenen Büchern.
Zum Schluss: Man mag es überraschend finden, dass Bollmann aus dem Büchlein über Glück des eingangs erwähnten Wilhelm Schmid eine Aussage nicht zitiert, in der der Philosoph Bezug nehmend auf eine „englische Langzeitstudie“ (Schmid, S. 63) behauptet: „Lesen ist Lebensverlängerung, denn es macht intelligenter, und intelligente Menschen leben länger“ (ebda, S. 62f.) – aber machte das auch glücklich? Da scheint selbst Bollmann zu zweifeln.

Stefan Bollmann Warum Lesen glücklich macht
Sachbuch.
Berlin: Insel, 2013.
144 S.; brosch.
ISBN 978-3-458-35921-0.

Rezension vom 01.08.2013

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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