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Wartinger sucht das Paradies

Andreas Renoldner

// Rezension von Peter Landerl

Es passiert einem Rezensenten nicht sehr oft, dass zu besprechende Bücher in einem Zug gelesen werden. Wartinger sucht das Paradies, erschienen in der Edition Geschichte der Heimat des engagierten oberösterreichischen Kleinverlegers Franz Steinmaßl, ist eines davon. Wartinger (den Vornamen verschweigt der Erzähler) wird an einem kalten Novembertag des Jahres 1955 im Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern geboren. Noch auf dem Weg aus dem Mutterleib wird er vom Krankenhausseelsorger getauft – damit das kleine Seelchen ganz sicher in den Himmel, ins Paradies kommt, falls bei der Geburt noch etwas schiefgehen sollte. Mutter und Kirche – damit sind die Problemkreise eröffnet, mit denen sich Wartinger abraufen wird.

Wartinger wird in eine typische 50er-Jahre-Familie hineingeboren: Der Vater arbeitet sich hoch, die Mutter kümmert sich um den Haushalt und die fünf Kinder. Eine enge Wohnung, wenig Geld, sonntags die Messe und Ausflüge in die Umgebung. Der Glaube an den Fortschritt, an Wohlstand und die Kirche. Das viel beschworene, oft gehörte und meist noch auf Schwarz-weiß-Fotos abgebildete Idyll aus den 50er Jahren, das aber nur hält, wenn man nicht genauer hinschauen will: Da gibt es die Großmutter, die die Sprache der Nazis nicht abgelegt hat, den Vater, der sich kaum zu Hause blicken lässt und bald ein Verhältnis mit seiner Sekretärin hat, den Streit in der Familie.

Fegefeuer oder Paradies. Die Optionen sind klar und einleuchtend, sie werden Wartinger im Kindergarten der Kreuzschwestern, im Religionsunterricht, bei den Ministranten und in der Jungschar eingebläut. Der Katechismus gibt den Weg vor. Die Angst des Volksschülers vor der Hölle: „Manchmal träumt Wartinger von einem Sturz in ein dunkles Loch. Unten glüht es rot. Die im Feuer Sitzenden tragen wegen der Verbrennungen weiße Binden, die bis zu den Ellbogen reichen. Kaum ist die Wunde verheilt, muss der Arm wieder ins Feuer. Wartinger schreit. Einmal wacht er auf. Der Pyjama und das Bett sind nass.“

Die Kirche gibt die Regeln, die feste Ordnung vor und Wartinger setzt Schritt um Schritt, um das Paradies zu erreichen. Er wird Ministrant, weil er bei der Messe näher am Altar und dem Allerheiligsten steht.

Das irdische Glück findet er kaum einmal. In der Schule hat er Probleme, die Familiensituation wird unerträglich. Er geht nach Wien, um Medizin zu studieren, löst sich von der Kirche. Der chronische Weltverbesserer träumt von alternativen Lebensweisen, weil er mit dem Gesellschaftssystem nichts anfangen kann. Er lernt Christine kennen, sie wird schwanger. Die beiden wollen die Fehler der Eltern vermeiden, doch die Beziehung scheitert: Anspruch und Wirklichkeit. „Ein Ideal ist ein Aufstand gegen die Macht der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist stärker“, notiert Wartinger einmal ernüchtert. Seine Odyssee beginnt: Er schließt sein Studium ab, erhält aber keinen Turnusplatz, jobbt als Kellner, Koch und Nachtportier, eröffnet ein Café, lebt in Wohngemeinschaften, Selbsthilfegruppen, Landkommunen. Im Versuch, sich selbst zu finden, verliert er seine Familie und versinkt in Frust und Apathie. Die Odyssee wird zum Martyrium, bis er Katharina kennen lernt, die eine ähnliche Entwicklung durchgemacht hat. Als sie am Ende des Romans sagt: „Ich bleibe bei dir“, ist so etwas wie ein Happy-End greifbar.

„Roman einer Generation“ hat Renoldner sein Buch untertitelt, und das ist durchaus programmatisch zu verstehen. Ein Entwicklungsroman, der die Person Wartinger durchleuchtet. Ein Prototyp. „Einer von vielen. Kein Einzelfall.“ heißt es im Lied So lebe ich von Blumfeld und diese Zeilen würden auch auf Wartinger zutreffen. Renoldner zeigt den typischen Weg eines alternativen Denkers, dem es nicht gelingt, sich von den Fesseln seiner Kindheit zu lösen. Dabei verfällt der Autor nicht in platte Diktion oder tappt in die Klischee-Falle, was dem unterhaltsamen und kurzweiligen Roman hoch anzurechnen ist. Wartinger ist der unpersönliche Held ohne Vorname, der auf Distanz zu sich lebt und diese Distanz auch anderen gegenüber zeigt. Eine Gefühlskälte, die in der leisen Hölle der Familie gezeugt und durch den Ego-Trip konserviert wurde. Kein Selbstfindungsseminar, kein Hexentanz, keine Esoterik helfen da und auch nicht das Anbauen von Gemüse fernab der feindlichen Stadt.

Wartinger wirkt mit seinen Idealen, seinem verzweifelten Beharren auf der Suche nach dem Paradies in unserer aalglatten Welt des schrankenlosen Kapitalismus, der als Ideal nur die monetäre Freiheit kennt, wie ein furchtbar altmodisches Fossil. Deshalb sollte man den Roman unbedingt lesen.

Wartinger sucht das Paradies.
Roman einer Generation.
Grünbach: Edition Geschichte der Heimat, 2003.
204 Seiten, gebunden.
ISBN 3-900943-98-2.

Homepage des Autors

Rezension vom 12.09.2003

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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