Verreisen ist hier eine gute Ablenkung. Die Wienerin Lilly entschließt sich zu einer Auszeit mit ihren guten italienischen Freunden, Miriam und Carlo, auf Sardinien. Ist die erste Übelkeit nach der Reise mit der Fähre erstmal verflogen, kann Lilly sich dem idyllischen Umfeld hingeben, sich geradezu in die Insel verlieben und sich zu Gedichten inspirieren lassen. So lange bis Gianni auftaucht, ein Bekannter ihrer Freunde. Dass dieser Mann, der eigentlich kein Adonis ist, das neue Objekt der Begierde für Lilly wird, ahnt sie zunächst nicht. Erst im Laufe der Zeit entdeckt sie ihre Gefühle – im Laufe von Monaten und sogar Jahren.
„Eine Liebesgeschichte in sieben Jahren“ lautet der Untertitel des neuen Romans von Susanne Scholl (Emmas Schweigen, 2014). Der Umfang – knappe 220 Seiten – deutet schon darauf hin, dass das Buch nicht im Detail auf diese Zeitspanne eingehen kann. Sieben Jahre auf 220 Seiten erfordern Mut zur Lücke.
Susanne Scholl verknappt das Leben der Protagonistin, fokussiert auf das Wesentliche. Nach der Reise nach Sardinien gibt sich Lilly wieder ihrem (tristen) Wiener Alltag hin. Sie arbeitet freudlos als Übersetzerin und muss sich mit ihrer anstrengenden Familie herumschlagen: einer Mutter, die Lilly ständig das Gefühl gibt minderwertig zu sein (mitunter, weil sie sie stets „Mädi“ nennt) und einem Vater, der seine Homosexualität spät entdeckt hat und nun ein Buch darüber schreibt, ohne die Privatsphäre der Familie zu respektieren. Hinzu kommen echte Lebenskrisen, etwa der Verlust der besten Freundin Sophie, die an Krebs erkrankt ist.
Einziger Lichtblick für Lilly ist der immer wiederkehrende Sommerurlaub auf Sardinien. Sieben Jahre fährt sie hin, und von Jahr zu Jahr werden ihre Gefühle für Gianni – dem sie jedes Jahr wieder hier begegnet – stärker. Eine virtuelle Liebe nennt sie diese Beziehung, denn Sex oder gar einen Kuss gibt es zwischen den beiden nicht: Gianni ist verheiratet, wenn auch nicht glücklich. Und als Lilly ihm in einem Sommer, einige Jahre nach der ersten Begegnung gesteht, in ihn verliebt zu sein, blockt Gianni bloß ab – mit der Bemerkung, dass man sich doch gar nicht kenne, lediglich ein paar Urlaubswochen bei gemeinsamen Freunden verbracht habe.
Es ist erstaunlich, wie besessen Lilly geradezu von diesem Italiener ist. Jahr um Jahr vergeht, ohne dass sie sich auch nur für einen anderen Mann in Wien interessiert. (Abgesehen von ihrem neuen schwulen Freund Theo.) Sie ist durchaus eine schrullige, schüchterne und auch bemitleidenswerte Figur, die manchmal nicht den Anschein gibt, in ihren Dreißigern zu sein. Gibt es wirklich Frauen, die so handeln – und sich so behandeln lassen? Die sich über Jahre hinweg ihren Tagträumen nach einem unerreichbaren Mann hingeben? Die nicht ihr Leben in die Hand nehmen? Fragen wie diese stellt man sich immer wieder – ganz besonders wenn man sich altersmäßig mit der Figur identifizieren kann. Würde man nicht längst einem Kollegen oder dem Freund eines Freundes eine Chance geben, sich vielleicht bei einer Online-Dating-Plattform anmelden? Man möchte Lilly, die zu Recht von einer anderen Figur im Buch als passiv bezeichnet wird, am liebsten schütteln: Zieh dir etwas Hübsches an, schmink dich und mach etwas aus deinem Leben! Aber vielleicht ist es gerade diese atypische Denk- und Handlungsweise, die einen immer wieder weiterlesen lässt. Gerade der Wechsel zwischen Erzählerperspektive und innerem Monolog sorgt dafür, dass man einen wirklichen Einblick in die Gefühlswelt der Protagonistin hat.
Vor zwei Jahren veröffentlichte die Journalistin und Autorin Susanne Scholl den Roman „Emmas Schweigen“, bei dem das Thema Migration im Mittelpunkt steht. Diesen Tiefgang hat das neue Buch, die Liebesgeschichte, nicht, wenngleich Scholl immer wieder die Thematik des Fremdseins am Rande anschneidet. Viel eher ist dieses kurze Buch eine leichte (Sommer-)Lektüre, ohne dabei oberflächlich zu sein. Die Geschichte wird flüssig und flott erzählt, ideal für den nächsten Urlaub (in Italien).