„Eigentlich hatte keiner ihn gefragt, ob er Polizist werden wolle.“ Mit diesem vermeintlich harmlosen Satz fängt Wolfgang Hermanns Erzählung Walter oder die ganze Welt an. Und genau damit beginnt das Dilemma. Das Dilemma von der scheinbaren Zwangsläufigkeit der Dinge.
Denn zusammengehalten wird die Ordnung in der augenscheinlich zeitlosen Kleinstadt am Fuß der Alpen „mit einer Ahnung von Aussicht bis hinunter zum Bodensee“ vom unabänderlichen Glauben daran, dass alles so bleibt, wie es ist, wie es seit jeher war und wie es immer sein wird.
Aber bereits mit dem Wirtschaftswunder hält die Industrie Einzug in der Vorarlberger Idylle. Und mit ihr kommen auch die ersten Fremdarbeiter. „Damit fing die Unordnung an. Denn wer nicht zur Messe ging, der stellte vielleicht bald alles in Frage.“ Wie die jetzt in den Siebzigerjahren auch in der Vorarlberger Provinz aufkommende Jugendbewegung. Sie protestiert mit ihrer Verweigerung, sich in das System von Kirche, Familie und Arbeit zu integrieren, passiv gegen die vorgegebene Ordnung der Dinge.
Doch Walter, der seit einer gefühlten Ewigkeit wie der Herrgott persönlich auf seiner Trommel im Zentrum der Kreuzung den Verkehr regelt, sorgt „mit zärtlichem Auge“ ganz persönlich so lange wie möglich dafür, dass die Welt im Gleichgewicht bleibt.
Zur Bestätigung dieses Gleichgewichts und zur Gewissheit der Unabänderlichkeit der Dinge gehört die tägliche Wiederkehr des Immergleichen. Darauf, dass Steuerberater August Hummel jeden Mittag pünktlich mit dem Glockenschlag die Polizeistation passiert, ist hundertprozentig Verlass. Mit der unverrückbaren Zuverlässigkeit und Präzision, mit der er von seinem Büro aus jeden Tag Punkt 12 vor den Augen der Polizei zum Mittagessen nach Hause geht, steht er als ultimativer Garant für die kleinstädtische Ordnung. Als August Hummel eines Tages vor seinem Polizeiposten ausbleibt, bringt das Walter völlig aus dem Gleichgewicht.
„There is a crack in everything, That’s how the light gets in“, singt Leonard Cohen. „Lichtheimat“ nennen die Hippies ihren abgelegenen Hof in den Bergen. Pilgerstätte für alle Jugendlichen, die auf der Suche nach einem anderen Leben sind. Der Utopie von einer besseren Welt jenseits jener Ordnung, wie sie ihnen von der elterlichen Kriegsgeneration vorgelebt und weitergegeben wurde. August Hummels Sohn Andreas ist einer der Verweigerer, die die abgelegene Vorsäßalp zur „Lichtheimat“ erkoren haben, um gegen die etablierte Ordnung ihrer Eltern aufzubegehren.
Den Riss in der Welt, den Spalt zwischen Wirklichkeit und Wahrheit sieht Walter erst, als er von sich aus zur „Lichtheimat“ der friedlichen Kiffer hinauf steigt. Walters Suche nach Andreas Hummel wird zum Trip in die Uneindeutigkeit der Dinge. Danach ist für den Polizisten nichts mehr, wie es vorher war.
Auch August Hummel leidet seit dem Verschwinden seines Sohnes an der „Sehnsucht nach dem Leben“. Erst als Hedwig, eine Geistheilerin, ihn mit Handauflegen von der Trauer um seine aus Lebensangst ungelebten Träume befreit, beginnt er, seinen Sohn Andreas für den Mut zu bewundern, seine eigenen Träume zu leben.
Aber der selbst ernannte Götterjüngling Andreas scheitert wie alle anderen Jünger der „Lichtheimat“ mit ihrem „Indien- und Erlösungstraum“ am Ende an der Beharrlichkeit der über Jahrhunderte festgefügten Ordnung der kleinen Stadt, die für das große Ganze steht. Die „Wirklichkeit, so wie sie war, war die betonierte Summe der harten Träume.“
Und Walter? Er sitzt noch eine Zeitlang am Fenster auf der Polizeiwache, bis er den Aufruhr, den die Aussteiger in der kleinen Welt und in ihm selbst verursacht haben, vergessen hat. August Hummel nimmt einen anderen Weg ins Büro.
Walter Hermanns Walter oder die ganze Welt zeigt, dass nichts so fest gefügt ist, wie es den Anschein hat. Nicht einmal die Kleinstadt-Idylle zwischen Alpen und Bodensee. Da ist ein Riss in der Welt. Selbst in der scheinbar heilen Welt. Dahinter, im Dunkeln, verbirgt sich die verheerende Kontinuität einer falschen Ordnung, die von der vorindustriellen Zeit über den nie aufgearbeiteten Nationalsozialismus auch nach dem Krieg unhinterfragt weiter fortbesteht. Bis in die Gegenwart hinein. Wo immer noch alles Fremde, das die Ordnung stört, als „fremdhäßig“ (eine alte Dialektbezeichnung für Menschen mit fremder Kleidung, also Migranten) ausgegrenzt wird. Damit wird Wolfgang Hermanns kleine Parabel vom großen Gleichgewicht hoch aktuell. Denn Hermann zeigt mit seiner Erzählung, dass das Dilemma bei der je eigenen Wahrnehmung beginnt. Indem er der „betonierten Summe der harten Träume“ für eine kurze Erzählung lang den zärtlichen Blick des charmant naiven Ordnungshüters Walter entgegensetzt.