#Prosa

Wände aus Papier

Hanno Millesi

// Rezension von Peter Landerl

In zehn Erzählungen nähert sich der junge Wiener Autor Hanno Millesi (der heuer am Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb teilgenommen hat) dem höchstkomplizierten Komplex Familie. Für die einen ist Familie der unbedingt zu verteidigende Hort der Liebe, das wärmende Nest voller Fürsorge, die Keimzelle einer funktionierenden Gesellschaft. Für die anderen ist sie aber ein Ort quälender Rücksichtnahme, streng hierarchisiert, voller Gewalt, eine Art Vorhölle auf Erden. Für alle aber gilt: Familie wird am eigenen Leib erfahren, so auch in Millesis Erzählsammlung Wände aus Papier, die in schöner Aufmachung eben im jungen, aufstrebenden Luftschacht-Verlag erschienen ist.

Originell ist Millesis Perspektive, mit der er sich dem Universum Familie nähert: Es ist der Blickwinkel der Kinder, die sozusagen von unten auf die fremde, eigenartige, unverständliche Welt der Eltern blicken. Nicht aber kindlich-naiv sind Millesis Erzähler, nein, es sind zwar Kinder, aber mit dem Abstraktions- und Reflexionsniveau und der Sprachfähigkeit von Erwachsenen. Altkluge, nüchtern-logische Denker. Kindisch, primitiv, irrational und durchschaubar, das seid ihr, liebe Eltern!

Die Familien, die Millesi beschreibt, lassen sich auf den ersten Blick als wohlgeordnete, zivilisierte begreifen. Doch der Schein trügt. „Werktagsüber“ heißt die erste Erzählung. Der Sohn ist von der Schule geflogen, der Vater rät ihm daraufhin, sich „nach außen hin vorläufig zu verhalten, als wäre weiter nichts geschehen.“ Der Erzähler spielt für Mama und Papa das Spiel des braven Sohns weiter, verlässt morgens mit der Schultasche das Haus, geht vormittags in Parks spazieren, kommt nachmittags nach Hause und erzählt der Mutter am Küchentisch erfundene Schulerlebnisse. Irgendwann beobachtet der Sohn den Vater, wie der seine Tage statt in der Bankfiliale ebenfalls spazieren gehend zubringt. „Was ich nicht weiß, ist, woher unsere Familie ein Einkommen bezieht. Seit mein Vater nicht mehr in die Bankfiliale geht, sondern lediglich vortäuscht, dort weiterhin eine Anstellung zu haben, muss das Geld schließlich woanders herkommen. Von dieser simplen Überlegung ausgehend, habe ich mir die Frage gestellt, ob meine Mutter tagsüber wirklich mit dem Haushalt beschäftigt ist oder statt dessen heimlich arbeiten geht.“ Einträchtig und in aller Harmonie gaukeln sich die Familienmitglieder ihre heile Welt vor: „Wichtig ist, sich nicht vom Weg abbringen zu lassen.“

Eine Psychologie der Strafe entwickelt Millesi in der Erzählung „Maßnahmen“, in der der junge Ich-Erzähler nach einem Diebstahl in einem Supermarkt vom Filialleiter statt mit einer Anzeige mit einer „gsundn Watschn“ bestraft wird. Er beichtet seine Tat den Eltern und erwartet devot die angemessene Strafe. „Jede Bestrafung erfolgt mir zuliebe. Sie muss als Kern des Zusammenhalts unserer Familie betrachtet werden.“ Die Strafe der Eltern fällt dann aber unerwartet aus: In ihrem Strafmonopol verletzt, stürmen sie den Supermarkt, schlagen den Filialleiter und die Kassiererin brutal nieder. „Ich muss zugeben, dass mich die Erzählungen meiner Eltern, trotz des unguten Gefühls bezüglich der harten Maßnahmen, jedes Mal wieder mit Rührung erfüllen. Begeistert schildern sie, wie sie mit dem jeweiligen Delinquenten umgesprungen sind, und ich weiß, dass das um meinetwillen geschehen ist.“

Ebenfalls brutal endet die Geschichte „Oft sitze ich stundenlang vor dem Spiegel und denke über mein Aussehen nach“. Hier verkehrt Millesi das Wundermittel Schönheitschirurgie in ihr Gegenteil, in „Wände aus Papier“ beobachtet ein Kind zwangsläufig den elterlichen Sex, in „Experiment“behandeln die Eltern ihr Kind als wissenschaftliches Versuchsobjekt, wogegen sich dieses mit aller Kraft wehrt. Das Prinzip, das Millesis Erzählungen so interessant macht, ist, dass er dem scheinbaren Gleichgewicht Familie irrationale, groteske Stöße versetzt und so die Bruchstellen des Systems Familie offen legt.
Millesi lässt seine kindlichen Erzähler in einer elaborierten, genau gefeilten Sprache sprechen. Staubtrocken, überlegt und diszipliniert räsonieren und erklären sie, gehen wie Psychoanalytiker an ihre Probleme und die ihrer Eltern heran. Die Fallhöhe zwischen der gestelzten Sprache und ihrem Kindsein öffnet natürlich viel Platz für Ironie, den Millesi weidlich ausnützt.

„Die Empfindungen füreinander wuchern zum Dickicht.“ heißt es einmal treffend in einer Erzählung. Millesi weist skurrile, bizarre Wege durch dieses Dickicht.

Hanno Millesi Wände aus Papier
Erzählungen.
Wien: Luftschacht, 2006.
148 S.; geb.
ISBN 3-902373-19-9.

Rezension vom 20.12.2006

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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