#Sachbuch

Wachposten und Grenzgänger

Vera Schneider

// Rezension von Kurt Ifkovits

Deutschsprachige Autoren in Prag und die öffentliche Herstellung nationaler Identität.

In den letzten Jahren mehren sich erfreulicherweise literaturwissenschaftliche Arbeiten, die sich mit dem, was sich in der Literaturgeschichtsschreibung gemeinhin als „Prager (deutsche) Literatur“ festgesetzt hat, beschäftigen und die sich nicht ausschließlich auf die Literatur Franz Kafkas beziehen und auch nicht mit dem von Pavel/Paul Eisner in die Welt gesetzten Begriff des ‚dreifachen Ghettos‘ operieren. Zu diesen Arbeiten zählt auch die an der FU Berlin bei Peter Sprengel verfasste Dissertation von Vera Schneider, die nun in Buchform vorliegt und die sich mit der Konstruktion nationaler Identität beschäftigt, wobei die Autorin gleichermaßen von Phänomenen der Abgrenzung wie des Austausches ausgeht.

Prag als Laboratorium der Konstruktion nationaler Identität scheint deshalb so interessant, weil es ebenda innerhalb kürzester Zeit zu einer, wie die Autorin knapp und schlüssig nachweist, Neuordnung der Bevölkerungsgruppen kam, die verbunden war mit einem erheblichen soziokulturellen und auch ökonomischen Wandel, mit Verunsicherung und mit einem immer stärker werdenden Bedürfnis nach Abgrenzung, freilich bei großer räumlicher Nähe des ‚Anderen‘. Schneider begreift die Nation als Imagination ihrer Mitglieder, die kollektive Operationen von Grenzziehung ausführen und ihre gemeinsame Identität über Fremd- und Eigenbilder herstellen (15). Für die diskursive Konstruktion nationaler Grenzen zieht die Untersuchung zwei Textgruppen heran: zum einen Pressetexte, zum anderen literarische Texte, ausschließlich Prosawerke.

Bis auf das vierte Kapitel, das sich den ‚Grenzgängen‘ widmet, dienen Zeitungsartikel und andere außerliterarische Dokumente (Denkmäler, Straßenschilder etc.) der Rekonstruktion der Bilder, Vorstellungen, rhetorischen Strategien etc., mit denen sich die Prager deutschsprachige Öffentlichkeit selbst beschreibt. Derart destilliert die Verfasserin folgende Themen heraus, die auch den einzelnen Kapiteln entsprechen: Rückzug in Gruppen und Revieren, Sprache der Stadt, Konkurrenz der Denkmäler, die (musikalische) Partitur der Straße. Diese Fragestellungen werden nun auf fiktionale Literatur übertragen. Dabei begreift die Verfasserin den literarischen Text nicht als bloße Widerspiegelung des sozial-politischen, sondern plädiert vielmehr für ein diskursanalytisch-hermeneutisches Verfahren. Die untersuchten literarischen Texte erschienen in den Jahren 1899 bis 1917: Rainer Maria Rilkes „Zwei Prager Geschichten“, Karl Hans Strobls „Vaclavbude“ und „Das Wirtshaus ‚Zum König Premysl'“, Max Brods „Ein tschechisches Dienstmädchen“, Ernst Weiß‘ „Franziska“, Egon Erwin Kischs „Mädchenhirt“ und schließlich Gustav Meyrinks „Walpurgisnacht“. Die Autorin beschränkt sich also mehrheitlich auf jene fiktionalen Texte, die die Forschung bereits als ‚Prager Text‘ kanonisiert und daher bereits öfters untersucht hat. Eine andere Auswahl, eine Erweiterung hätte den Erkenntnisgewinn sicherlich steigern können.

Die gleichwohl inspirierende Studie beeindruckt durch ihre intime Kenntnis der Prager politischen und topographischen Szene ebenso wie durch die Sprachkompetenz ihrer Verfasserin, die es ihr gestattet, auch tschechischsprachige (bis heute nicht übersetzte Werke) heranzuziehen. Besonders hingewiesen sei auf den Anhang, der nicht nur bibliographische Notizen zu den Referenztexten und ihren Autoren bietet, sondern auch eine Quellensammlung mit schwer erreichbaren zeitgenössischen Texten.

Problematisch erscheint indessen die Vorgehensweise im vierten Kapitel: In Ermangelung von aufgefundenen Pressestimmen, die den transnationalen Alltag der Stadt thematisieren, greift die Verfasserin auf literarische Texte zurück und stellt fest, dass (fast) einzig „[d]as erotische Interesse aneinander, die Anziehung, die gerade von der Alterität des Anderen ausgeht“ (199) den transnationalen Alltag Prags thematisiere. Mit dieser Herangehensweise behauptet und dupliziert die Autorin jedoch genau das, was Max Brod in seinem in der Studie angesprochenen Roman „Ein tschechisches Dienstmädchen“ vorgeführt hatte und was man diesem dann – die Autorin zitiert es – folgendermaßen vorgeworfen hatte: „Der junge Autor scheint zu glauben, dass nationale Fragen im Bett entschieden werden können“ (40). Fiktionale Texte werden hier nichtfiktionalen Texten letztlich gleichgesetzt, ein Verfahren, das die Autorin eigentlich ablehnt.

Es sei an dieser Stelle auf Organe verwiesen, die sich in dem Untersuchungszeitraum um Ausgleich bemühten und über beide Seiten gleichermaßen berichteten. Etwa über das Theater, das im nationalen Diskurs beider Seiten ja eine enorme Rolle spielte, zum Beispiel die deutschsprachige „Union“. Dort würden sich wohl Referenztexte finden lassen, die freilich eine andere Sprache sprechen als die von der Wissenschaft kanonisierten Organe „Bohemia“, „Prager Tagblatt“ und „Národní Listy“. Eine Sprache freilich, die schon damals außerhalb des Blickwinkels und noch mehr der politischen Wirkungsmächtigkeit stand und die nach 1918 völlig ins Vergessen geraten ist. Kurzum, eine, um es pathetisch zu sagen: ‚österreichische‘. Diese Konstruktion eines anderen, transnationalen Raumes, konkret Cisleithanien, fand freilich – sieht man einmal von Ausnahmen wie Hermann Bahr ab – erst sehr spät statt, nämlich während des Ersten Weltkrieges, zu einem Zeitpunkt also, als dieser Diskurs nicht mehr interessierte. An einigen Stellen der Arbeit blitzt diese Position, die nicht nur von Hugo von Hofmannsthal, sondern auch dem in Prag lebenden und heute völlig vergessenen Journalisten Willi Handl vertreten wurde, dann auch kurz auf.

Hingewiesen sei auch auf einen Widerspruch innerhalb der Arbeit. Auf Seite 17/18 liest man, daß „die speziell für dieses Vorhaben ausgewählten literarischen und außerliterarischen Texte“ „entweder Orte der Fest-Schreibung von Kulturtechniken, die auf nationale Distinktion abzielen [sind], oder aber sie versuchen, die zeittypischen Bekenntnis- und Solidarisierungszwänge bewusst zu unterlaufen“. Ein derartigen Entweder-oder-Schema, zumal bei fiktionalen Texten, erweist sich als problematisch, schon weil die Arbeit ansonsten methodisch reflektiert ist. Die Rezeption von Brods „Dienstmädchen“, die die Autorin rekonstruiert, widerlegt diese Behauptung eindrucksvoll. Brods ehrlich gemeinter ‚Grenzgang‘ wurde von allen Seiten (tschechischer, deutscher und jüdischer) heftig abgelehnt. Dies lag nicht zuletzt darin, dass auch ein verständigungsbereiter Autor wie Max Brod nicht fähig war, sich von den nationalen Stereotypen (deutsch = männlich/aktiv, tschechisch = passiv/weiblich; die Eroberung der Stadt geht mit der Eroberung des weiblichen Körpers einher etc.) zu lösen, zu sehr waren sie verinnerlicht. Und so kommt die Autorin am Ende ihrer Arbeit zu folgendem Schluss, der freilich das eingangs Behauptete unterläuft: „In jedem meiner Referenztexte finden sich einerseits grenzüberschreitende Tendenzen, andererseits werden auch immer zeittypische nationale Stereotypen und Lehrmeinungen referiert.“ (235)

Es versteht sich bei einer germanistischen Arbeit von selbst, dass ausschließlich deutschsprachige Texte im Fokus der Untersuchung stehen. Interessant – und dies fordert die Autorin auch selbst – wäre es nun, die Frage nach den Konstruktionen des Nationalen auf tschechischsprachige Texte auszuweiten. Ein transnationales Projekt, das alle Stimmen hört. Diese Arbeit hat einen Baustein hierzu geliefert. Die Förderstellen wie die Wissenschaft sind gleichermaßen gefordert.

Vera Schneider Wachposten und Grenzgänger
Sachbuch.
Würzburg: Königshausen & Neumann, 2009.
305 S.; brosch.
ISBN 978-3826037757.

Rezension vom 14.02.2010

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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