#Roman

Vor hundert Jahren und einem Sommer

Jürgen Thomas Ernst

// Rezension von Alexander Peer

Verwandlung des Biografischen

Im Prinzip leistet der Titel von Ernsts Roman Vor Hundert Jahren und einem Sommer eine Paraphrasierung von ‚Es war einmal …‘, womit bekannterweise Märchen eingeleitet werden. Dass es dem Autor mit dem Märchen-Bezug ernst ist, bestätigt die Widmung. Gleichzeitig erhebt die Geschichte auch den Anspruch eines Entwicklungsromans. Erzählt wird vom Erwachsenwerden von Annemie und Jonathan. Es gehört zum Charakter eines Märchens, dass die Handlung weder örtlich noch zeitlich festgelegt ist. Ernst hat mit dem 2010 erschienenen Roman Anima gezeigt, wie stark ihn der historische Roman als Schriftsteller interessiert.

In seinem neuen Buch verschränkt er die Aspekte beider Textarten. Denn sehr wohl ist beispielsweise der Krieg, von welchem in diesem Buch unter anderem zu lesen ist, als der Erste Weltkrieg zu identifizieren. Die erzählte Zeit erstreckt sich gewissermaßen vom 19. ins 20. Jahrhundert. Die Biografie von Annemie hat etwas Exemplarisches, das Stigma des ledigen Kindes, das Aufwachsen bei Pflege- bzw. Zieheltern, da die alleinerziehende Mutter arbeiten muss und sich nicht um ihr Kind kümmern kann, die Entbehrungen der arbeitenden Klasse. Das alles hat epochale Bedeutung. Das alles gehört auch zum Inventar des „Waisenromans“, wenngleich die Pflegemutter liebevoll ist. Wobei auch hier die Idylle nicht lange vorhält, aus Zuwendung wird schließlich Eifersucht.

Das Aufwachsen in dem malerischen „Dorf der Kirschen“ lässt oft an eine Landschaft im Westen Österreichs denken. Jonathans Kindheit ist von wiederholten Grenzüberschreitungen – auch unangenehm geahndeten – gezeichnet. In der Bezugswelt des Märchens ergibt sich oft eine Spannung aus trauriger und leuchtender Kindheit. Die Freundschaft der beiden Kinder, die später ein Paar und auch Eltern werden, ist jene Klammer, welche hilft, Schicksalsschläge zu ertragen. Die unvermeidliche Trennung der beiden an der Schwelle des Erwachsenseins gleicht der biblischen Aufgabe der – in diesem Fall – verlorenen Tochter, die erst ihre Selbstständigkeit in der Welt beweisen muss, um wieder in die Harmonie mit ihrer zweiten Hälfte Jonathan zu finden. Sie wird dabei ungewollt schwanger, verliert dieses Kind, bettelt, erniedrigt sich. Aber macht weiter. Jonathan aber muss in den Krieg. Soll man dieser Konstruktion ein Rollenstereotyp unterstellen? Gewiss verlangt der Roman danach, mit den Augen eines Märchenlesers betrachtet zu werden. Allein den Umstand, dass zwei zueinander finden und beieinander bleiben, kann ein desillusionierter Zeitgenosse leicht als ‚Märchen‘ abtun.

Schließlich ist der Kirschkern gewissermaßen der Kern der Geschichte, die Kirsche Symbolfrucht des Erfolges – die Beiden schaffen es zu Wohlstand dank der Fähigkeit im Winter Obst zu kultivieren. Bestimmt ist diese Idee als Metapher für Lebenswillen inmitten der toten Jahreszeit zu betrachten. In den Augen des Märchenlesers haben indes zwei andere Qualitäten die heimlichen Hauptrollen inne: Topographie und Meteorologie. In einem leicht feierlichen, absichtsvoll anachronistisch gehaltenen Stil, der sich ganz selbstverständlich als auktorial versteht, bildet Ernst eine detailgenaue, fast überbordende Darstellung landschaftlicher und klimatischer Ereignisse. So, als würde sich in der metaphorisch verdichteten Außenwelt jener Reichtum entfalten, der den beiden Hauptfiguren in ihrem kargen Leben vorenthalten bleibt. Selten kann man in einem zeitgenössischen Roman von derart vielen Farben lesen, die alle möglichen Zu- und Umstände erhellen. Ein Sinnenrausch wird stimuliert. Ist diese stilistische Haltung eine Hommage an die Zeit des Expressionismus? Man darf vieles vermuten. Eine Besprechung verdient es verfasst zu werden, wenn sie sich nicht das Ziel einer Inhaltsangabe setzt; diese ist schließlich heutzutage leicht in den Weiten des Internet zu finden. Vielmehr sei die Frage erlaubt, ob der Anspruch, einen Entwicklungsroman zu schreiben, mit dem Gestus des Märchens einlösbar ist? Ich will nicht verhehlen, dass dies nicht so recht aufgeht. Der Roman bleibt eine Projektionsfläche für das Idealisieren von Biografie und behauptet eher die Entwicklung, als dass er diese glaubwürdig anschaulich macht. Sicher gehört auch diese Erzählhaltung der Zuschreibung zum auktorialen Erzählen, das sich dem inneren Monolog nicht öffnen kann oder will. So erscheinen die Personen an manchen Stellen eher wie Archetypen denn wie reale Personen. Das muss kein Einwand sein, Bücher sollen ja etwas Neues wagen: Märchenhafte Entwicklungsromane müssen nicht der realistischen Prüfung standhalten. Ernsts Buch liest sich anregend, ohne dabei große Gedanken zu stiften.

Jürgen Thomas Ernst Vor hundert Jahren und einem Sommer
Roman.
Wien: Braumüller, 2015.
480 S.; geb.
ISBN 978-3-99200-139-2.

Rezension vom 10.12.2015

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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