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Vor dem Zitronenbaum

J. Hellmut Freund

// Rezension von Reinhard Urbach

Der Klappentext ist ein vergängliches Gut. Gemeinhin steht er auf dem Schutzumschlag, der mit der Zeit zerreißt und verloren geht. Und mit ihm der Klappentext. Wie ein Waschzettel – so die Koseform – wird er als Gebrauchsanweisung verstanden, die in den Text, dem er beigegeben ist, erklärend einführt und nach der Lektüre des betreffenden Buches nicht mehr vonnöten ist. Ein Mittelding zwischen Zeitungsartikel und Buch – ist er ein Paria unter den Textsorten. Er steht nicht für sich selbst, er ist ein Bindeglied, ein Gebrauchstext zum Verschleiß. Wenn er den Leser in das Buch, dem er beigegeben ist, eingeführt hat, verliert er seine Funktion und wird überflüssig.

Essayistische und definitorische Versuche zum Thema Klappentext gab es immer wieder, so z.B. ein Dossier in „Literatur und Kritik“ 335/336, Juli 1999, mit Beiträgen von Lektoren (Jochen Jung, Klaus Siblewski), KritikerInnen (Anton Thuswaldner, Daniela Strigl), einem Autor (Peter Steiner) und einer Buchhändlerin (Rotraut Schöberl) – aber eine zusammenhängende Darstellung ist bis heute ausständig. Das mag auch daran liegen, dass es bisher keine Sammlungen von Klappentexten gab, die eine Gesamtschau leicht ermöglicht hätten.

Jochen Jung hat vier Kriterien aufgestellt: Der Klappentext soll informieren, reflektieren, animieren, amüsieren. Also: Was steht im Buch drin, wieso ist es lesenswert, man sollte nicht daran vorbeigehen und seinen Spaß dabei haben. Der Klappentext bewegt sich auf einem schmalen Grat, immer in Gefahr abzustürzen. Er soll das Buch loben, aber nicht peinlich sein. Er soll auf den Inhalt eingehen, ihn aber nicht erschöpfen. Er soll zur Lektüre anregen, sich jedoch dem Leser nicht anbiedern. Er soll anregend witzig sein, aber nicht unfreiwillig komisch. Kein Wunder, dass Klappentexte nicht immer gelingen. Er soll unpersönlich klar sein („Ich“ zu sagen, ist verpönt), soll keine Meinung haben, aber doch ein Urteil. Er hat den Anforderungen des Marketing zu dienen, darf aber kein aufdringlicher Werbetext sein.

Eine junge Lektoratspraktikantin soll ihren Freund, einen berühmten Essayisten, gebeten haben, ihr beim Verfassen der ausständigen Klappentexte zu helfen. Der willfährige Autor erledigte die Aufgabe mit gewohnter Bravour – die Texte konnten nicht verwendet werden. Sie waren zu eigenwillig, pointiert und poliert.
Es gehört zu den bequemen Topoi von Rezensionen – wenn sie denn darüber hinaus gehen, den Klappentext in Ermangelung eines eigenen Standpunkts zu übernehmen – den Klappentext als oberflächlich, unzutreffend oder gar falsch zu zerpflücken. Eine billige Methode ist das, einen Text dafür zu strafen, dass er ein Wegweiser ist und keine Landkarte.

Dieses Buch nun, die erzählte Autobiographie eines Lektors, der die Bücher des S. Fischer Verlags 44 Jahre lang betreut hat, versammelt – meines Wissens zum erstenmal – eine Reihe seiner Klappentexte. Sie werden der Vergänglichkeit entrissen. Und dienen der Charakterisierung eines gebildeten Büchermenschen, der sein Lebtag kein Buch geschrieben, sondern nur geholfen hat, Bücher zu machen.

Ein Lektor ist kein Autor, sagt Hellmut Freund, er schreibt nicht. Er begleitet, er dient den Autoren, deren Texte er bewundert, deren Eitelkeit er belächelt, deren Überheblichkeit er verachtet. Ein guter Lektor liest verständnisvoll, was der Autor einbringt und greift hie und da redaktionell ein; ein besserer Lektor macht sich den Autor zum Freund und schafft eine Atmosphäre, die es ihm erlaubt, dem Autor auch unliebsame Wahrheiten über dessen Text zu sagen; der beste Lektor ergänzt den Autor als Partner, er hilft ihm, sich selbst zu finden, er kitzelt aus ihm das Maximum an eigenständigem Potential heraus, das der Autor allein nicht imstande wäre zu erbringen. Er nimmt nicht das fertige Manuskript entgegen und korrigiert Fehler, fegt Stilblüten aus, schlägt Kürzungen oder Erweiterungen vor, sondern er begleitet die Entstehung des Buches von der ersten Idee – vielleicht hat er die Anregung zum Buch auch selbst gegeben – über die verschiedenen Fassungen bis zur druckreifen Fertigstellung.
Als ein solcher Lektor hat Hellmut Freund durch die Jahrzehnte das Programm des S. Fischer Verlags mitbestimmt.

Ein Verlag unterscheidet sich von einer Druckerei dadurch, dass er Bücher nicht nur herstellt, sondern auch vertreibt; dass er sie nicht nur bei der Fertigstellung von seinen Lektoren betreuen lässt, sondern auch im Auge behält, dass sie seinem Programmprofil entsprechen und sich in die Reihe der anderen Titel einfügen. Die großen Verlegerpersönlichkeiten waren Leser und Kaufleute zugleich. Sie standen für die Produkte des Verlages ein, der ihren Namen trug. Der Verleger brachte auf den Markt, was er für richtig hielt. Im Laufe der Zeit wurde daraus eine Eulenspiegelei, der Markt ließ sich nicht bevormunden, schluckte nicht wahllos, sondern schlug zurück und trieb den eigenwilligen Verlegern die Flausen aus. Denn der Markt ist die Gesamtheit der Käufer, die sich zwar von Trends und Moden, von Stimmungen und Strömungen beeinflussen, aber nicht auf Dauer beherrschen lassen. Ihre Bedürfnisse müssen erforscht und bedient werden. Nur was einen Nerv trifft, verkauft sich gut. Hier muss nicht nur der Marketingexperte, sondern eben auch der Lektor dem Verleger zur Seite treten, die Verlagslinie konturieren und dabei Nischen für schwer verkäufliche Prestigeunternehmen schaffen.

Im Allgemeinen bleibt der Lektor anonym. Da er ja außer Klappentexten und eventuellen Briefen an die Vertreter nicht schreibt, können ihn die Leser nicht namentlich kennenlernen. Ein guter Verlag allerdings bekennt sich zu seinen Lektoren, entzieht sie dem verordneten Schattendasein, befreit sie von der dienenden Funktion, animiert sie zu eigener Produktion und bringt diese auch heraus. So geschehen im S. Fischer Verlag mit Lektoren wie Moritz Heimann oder Oskar Loerke. Und nun auch mit Hellmut Freund.

Ein Lektor, der nicht schreibt, wird zum Autor eines dicken Buches. Monika Schoeller, die Verlegerin, hat ihre Mitarbeiter animiert, mit Hellmut Freund Gespräche zu führen, seine Lebenserzählung aufzuzeichnen und in eine druckfertige Form zu bringen. Über 400 Seiten erzählt Freund sein Leben vor der Tätigkeit als Lektor. 1919 in Berlin geboren, den ersten Vornamen „Joachim“ bezeichnet er als halb jüdisch – halb preußisch, machte er hier sein Abitur (im selben Jahr wie Marcel Reich-Ranicki), emigrierte 1939 mit seinen Eltern nach Uruguay, kam von dort 1960 nach Deutschland zurück, trat mit einem Einjahresvertrag in den S. Fischer Verlag ein und blieb dort bis zu seinem Tod mit 85 Jahren, 2004. Die Lebenserinnerungen waren bis zur Hälfte, bis zu Freunds Rückkehr aus dem Exil gediehen. Die Zeit als Lektor hat er nicht mehr erzählen können.

Der Verlag macht daraus eine Tugend und druckt auf den verbleibenden 130 Seiten eine Reihe von Klappentexten, Briefe über Neuerscheinungen, in denen Freund seine Berichte in der Verlagskonferenz für die Vertreter zusammenfasste und Gruß- und Gedenkadressen an Autoren des Verlags ab.

Freunds Klappentexte machen der Gattung alle Ehre. Obwohl er es hasste, sie zu schreiben, obwohl er sie als „Fluch“ empfand, obwohl sie in der Regel von den Verlegern (Freund hatte zu Anfang drei Chefs: Gottfried Bermann Fischer, dessen Frau Brigitte als Eigentümerin und Rudolf Hirsch als Verlagsleiter – Freund nennt sie spöttisch „Dreifaltigkeit aber nicht Dreieinigkeit“) zerzaust und verändert wurden, es bleiben unverkennbar Freunds Texte. Sie sind klar, präzise, nicht geschwätzig und nicht übertrieben. Obwohl er selbst die „Zwickmühle des Formulierens und der Moral“ beklagte, sind diese Texte keine Kompromisse zwischen Gewissen und Lobhudelei. Man merkt: Freund hat nicht die Bücher, die er betreut hat, schöngeredet, sondern er hat nur Bücher betreut, zu denen er stehen konnte. So können seine „Waschzettel“ nicht nur als empfehlenswerte Vorlagen für künftige Klappentextautoren dienen, sondern stehen für sich selbst. Sie sind informativer als ein Lexikonartikel und objektiver als eine Besprechung.

Als ein Beispiel für seinen lapidaren und luziden Stil mag ein Abschnitt aus seinem Klappentext zum letzten Band der Tagebücher Thomas Manns (der die Jahre von 1953 bis 1955 umfasst) von 1995 dienen, der allerdings in seiner Lakonik für Freund einmalig ist: „Thomas Manns späteste Lebenszeit: Kummer über Weltgeschehen und Feindseligkeiten. Zweifel an der Schöpferkraft, Unlust an ‚Felix Krull‘. Vielerlei Beschwerden – auch auf Reisen. Tiefer Eindruck aber von Rom und der Audienz beim Papst. Behagen endlich im Kilchberger Haus, doch peinigend ‚das Problem, was ich arbeiten soll, denn ohne das ist kein Leben‘. […] Aufenthalt in Holland. Thrombose. Im Zürcher Kantonsspital am 29. 7. 1955 die letzte Eintragung. Darin ein Satz: ‚Lasse mir’s im Unklaren, wie lange dies Dasein währen wird.‘ Thomas Mann starb am 12. August.“

Die ersten 400 Seiten – Jugend und Exil – beschreiben überlegen und aggressionsfrei die Vertreibung aus Deutschland und die Mühsal des Neubeginns in einem fremden Land. In Uruguay war er erst Deutschlehrer, dann Journalist, eine Zeitlang Sekretär des Dirigenten Fritz Busch, den er über alles verehrte und dessen Andenken er auch im S. Fischer Verlag präsent hielt.
Der mündliche Vortrag, der ihn zu vielen Abschweifungen verleitete, hat der Druckfassung nicht geschadet. Man merkt, dass er es gewohnt war, seine Vorträge frei zu sprechen und sich klar und prägnant auszudrücken. Alle, die ihn noch persönlich gekannt haben, rühmen seine Konzilianz und seine Präsenz. Die andern finden seine Persönlichkeit in jedem gesprochenen und geschriebenen Satz dieses Buches, das ein Erinnerungsbuch ist und zugleich eine Hommage.

J. Hellmut Freund Vor dem Zitronenbaum
Autobiografische Abschweifungen eines Zurückgetretenen.
Hg.: Vikki Schaefer, Leo Domzalski.
Frankfurt am Main: S. Fischer, 2005.
577 S.; geb.; m. CD.
ISBN 3-10-023303-4.

Rezension vom 09.03.2006

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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