#Prosa

Von nah, von fern

Karl-Markus Gauß

// Rezension von Peter Stuiber

2002 erschien erstmals ein „Journal“ von Karl-Markus Gauß, der sich bis dahin mit seinen brillanten Essays einen Ruf als hellsichtiger und kritischer Zeitgenosse erschrieben hatte. „Mit mir, ohne mich“ war insofern eine Überraschung, als hier ein Autor sich einer literarischen Form bediente, der im Normalfall von einer breiten Leserschaft eher wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Bei Gauß erstem Journal handelte es sich freilich nicht um ein Tagebuch im strengen Sinne, sondern um eine Sammlung von Essays, Kommentaren und Notizen, die jeweilige Ereignisse als Auslöser haben. Für Gauß-Leser eine erfreuliche Premiere war es, dass der Herausgeber der Zeitschrift „Literatur und Kritik“ erstmals auch Einblicke in sein Leben als Schriftsteller gewährte. Kurzum: Als Leser hoffte man auf Fortsetzung, und die liegt nun vor in Form eines gut 250 Seiten starken „Jahresbuches“ von Jänner bis Dezember 2002.

Dieser Band mit dem Titel Von nah, von fern ist so außergewöhnlich wie sein Vorgänger. Thematisch ist der Bogen weit gespannt: Von der Einführung des Euro bis zum Rassismus des Geldes, den die EU fördere; von der Ignoranz und Schuld der Literaturkritik gegenüber Franz Innerhofer bis hin zu Peter Handkes verklärter Romantik; von Schröders Eitelkeit bis zu Strindbergs erigiertem Penis; von Ulrich Seidl bis zu Fernando Pessoa … Gauß bedient sich des Stoffs, der sich ihm täglich bietet und macht an ihm kenntlich, wo die Schwachstellen, die Abgründe, die Verlogenheiten unserer Zeit zu finden sind. Und er beweist wieder einmal, welch wortgewaltiger Polemiker er sein kann: Mal verflucht er das australische „Wohlstandspack“ (S. 27), das sich gegenüber Flüchtlingen abschottet, sich anlässlich der Olympischen Spiele aber als „sympathisches Menschenvolk“ präsentieren dürfe. Dann führt ihn eine Anklage gegen die Methoden der USA, mit den Guantanamo-Häftlingen umzugehen, zum Omofuma-Prozess in Klosterneuburg, wo sich die drei angeklagten Polizisten so weinerlich präsentieren, dass man sich für deren „Selbstmitleid […] unwillkürlich schämt, so roh und abstoßend sie auch sein mögen.“ (S. 41) Mal singt er ein Hohelied auf Kinder, die einen davon abhalten, zynisch zu werden (S. 76), ehe er auf die durch den Versand von SMS verursachte „fortwährende Gehirnaufweichung“ der Jugend zu sprechen kommt (S. 95). Kein Phänomen ist Gauß zu klein, kein Thema zu groß, als dass er nicht beide mit Leichtigkeit zu verbinden wüsste, um daraus eine Anklage gegen die Geist- und Rücksichtslosigkeit der Gesellschaft zu machen.

Freilich schießt der Autor bisweilen übers Ziel hinaus: Wenn er etwa den Schauspieler Voss dafür rügt, dass dieser sich Politiker wünsche, die sich wieder mehr um die Kunst kümmern. Gauß dazu: „Obwohl er (Voss) gar nicht behindert wirkte oder besonderer Pflege bedürftig, wünschte er sich doch Politiker, die sich um ihn kümmerten. […] er sehnte sich nach der guten Obrigkeit“. (S. 221) Auch wenn Gauß Gunter von Hagen („Körperwelten“) als „Leni Riefenstahl der plastifizierten Körper“ zu erkennen glaubt und im gleichen Kapitel einen chinesischen „Künstler“ ins Spiel bringt, der Körperteile eines Babys verspeist hatte, fragt man sich, ob der Autor die gleichen Maßstäbe anlegt oder die Polemik mit ihm durchgeht. Ob Ulrich Seidls Erfolg sich nur der Ausbeutung von Österreicher-Klischees verdankt, darf man ebenfalls bezweifeln. Doch gerade das ist wohl auch eine der besonderen Stärken des Gauß’schen „Jahresbuches“: dass es sich als scharfsichtiger Begleiter durch das Jahr 2002 eignet und zugleich den Leser dazu zwingt, die eigenen Positionen zu bedenken – und letztlich auch Widerspruch zu wagen bzw. zu begründen. Mit dem Buch beweist Gauß jedenfalls jene geistreiche, unabhängige Kritikfähigkeit, die er bei anderen seit Jahren vehement einfordert.

Karl-Markus Gauß Von nah, von fern
Ein Jahresbuch.
Wien: Zsolnay, 2003.
263 S.; geb.
ISBN 3-552-05286-0.

Rezension vom 17.11.2003

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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