#Prosa

Von Minsk nach Manhattan

Martin Pollack (Hg.)

// Rezension von Georg Renöckl

Die Reportage wurde von Herodot erfunden, von Plinius dem Jüngeren perfektioniert, von Egon Erwin Kisch zu später Blüte gebracht und ist seither zum Aussterben verurteilt. Die Bevölkerung Polens besteht aus Installateuren, die nur darauf warten, dank neoliberaler Dienstleistungsrichtlinien über den europäischen Arbeitsmarkt herzufallen.
Beide Aussagen sind natürlich Unsinn, aber dennoch nicht allzuweit von dem entfernt, was man aus der regelmäßigen Lektüre österreichischer Printmedien schließen kann.

Längere Texte sucht man dort in der Regel vergeblich, eine der wenigen Anlaufstellen für potenzielle Leser von Reportagen ist hierzulande der Zsolnay-Verlag, der seit seiner Übernahme durch Carl Hanser in den 90er Jahren ein deutlich mitteleuropäisch orientiertes Programm anbietet. Hier erscheinen seit Jahren Karl-Markus Gauß‘ längst preisgekrönte Reportagebände aus Österreichs näheren und ferneren Nachbarländern, zu denen sich nun unter dem Titel Von Minsk nach Manhattan von Martin Pollack gesammelte und größtenteils selbst übersetzte Reportagen gesellen. Sie stammen aus der polnischen Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“, die 1989 zur Unterstützung der Gewerkschaft Solidarnosc gegründet wurde. Heute ist sie Polens größte überregionale Tageszeitung. Ihr Markenzeichen: das regelmäßige Erscheinen mehrseitiger Reportagen. „Die Verallgemeinerung ist der natürliche Feind des Menschen. Das Drama des Menschen hat stets individuellen Charakter. Die Reportage ist die Begegnung mit diesem Drama“, so Adam Michnik, einer der Zeitungsgründer.

Es sind tatsächlich Dramen, die Martin Pollack aus einigen hundert zwischen 1992 und 2005 erschienenen Reportagen ausgewählt hat. Man liest sie mit einer eigenartigen Mischung aus Erstaunen darüber, wie ähnlich Polen und Österreich einander offenbar sind, und dem Gefühl, Texte von einem anderen Planeten oder zumindest aus einer anderen Epoche vor sich zu haben.
Das Herumgedruckse polnischer Provinzpolitiker etwa, die auf die fehlenden Feiern für einen großen jüdischen Sohn der Gemeinde angesprochen werden, könnte auch von ihren österreichischen Amtskollegen stammen. Kaum zu glauben ist wiederum, dass die darauffolgende Geschichte einer weißrussischen Schule, deren Lehrer und Schüler ein lebensgefährliches Katz- und Mausspiel mit Lukaschenkos Geheimdienst spielen, aus dem Europa des Jahres 2005 stammt. Überhaupt wird beim Lesen dieser Texte oft schmerzlich bewusst, wie fremd uns heute, trotz der geringen Entfernung, Osteuropa nach wie vor sein kann. Bei der längsten Reportage des Bandes, in der letzte Zeitzeugen die Leidenswege jüdischer Dorfgemeinschaften zwischen Freiburg im Breisgau und der russisch-chinesischen Grenze erzählen, wäre wohl die eine oder andere Landkarte hilfreich, so wie es dem nicht ortskundigen „westlichen“ Leser ohne Hilfe auch schwer fallen dürfte, das komplizierte Verhältnis von Ukrainern und Polen, sowie die wechselseitigen Gebietsansprüche und Grenzverschiebungen im Zuge der letzten Kriege nachzuvollziehen. Auch wenn man da oft im geografischen Dunkel tappt: Dass in Mittel- und Osteuropa noch so manche Leiche im Keller oder auch unter einem Misthaufen begraben liegt, so manche Rechnung aus der Vergangenheit noch offen und so manche Tragödie noch zu erzählen ist, das beweisen die hier vorliegenden Texte.

Wenn sie auch immer wieder von der Vergangenheit eingeholt werden, stammen die Reportagen doch größtenteils aus der postkommunistischen Gegenwart. Der Titel der Sammlung, Von Minsk nach Manhattan, verspricht nicht zuviel: Die Bandbreite reicht von der Wurzelsuche eines polnischen Rom in Transsylvanien über Geschichten vom Scheitern deutsch-polnischer Liebesbeziehungen oder polnischer Emigranten in den USA bis zu veritablen Krimi-Vorlagen. Wüsste man es nicht besser, könnte man beispielsweise glauben, Wolf Haas habe den Stoff für „Komm süßer Tod“ von der Reportage „Die Hautjäger von Lódz;“ abgekupfert.

Martin Pollacks Vorwort enthält neben Wissenswertem zur polnischen Reportagetradition auch den Hinweis, dass es in Polen nicht nur zahlreiche ausgezeichnete Reporter gibt, sondern auch ein entsprechend anspruchsvolles Publikum, das deren Texte liest und schätzt. Vor dem Hintergrund der hiesigen Medienlandschaft machen einen solche Aussagen nachdenklich bis betroffen. Zehn bis zwölf Reportagen erscheinen wöchentlich in der „Gazeta“. Der für polnische Verhältnisse durchschnittlich lange Text „Reality“ wurde auch in der österreichischen „Presse“ abgedruckt. Es handelt sich um den längsten jemals dort erschienenen Beitrag, erklärt dazu nicht ohne Stolz sein Verfasser Mariusz Szczygiel in der Netzeitung.

Dass Österreich dieser so gar nicht billigen Konkurrenz aus dem Osten tatsächlich nur wenig entgegenzusetzen hat, muss man angesichts der hier vorgestellten polnischen Reportagen wohl zugeben – neidlos oder neidisch, je nachdem. Hoffentlich verstehen möglichst viele Leser bzw. Schreiber diese „Konkurrenz“ als das, was sie wirklich ist: eine echte Bereicherung.

Martin Pollack (Hg.) Von Minsk nach Manhattan
Polnische Reportagen.
Wien: Zsolnay, 2006.
272 S.; geb.
ISBN 3552053719.

Rezension vom 29.05.2006

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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