#Prosa

Von hier aus

Dieter Sperl

// Rezension von Birgit Schwaner

„Dieses Buch, dessen Titel sich über die Jahre mehrmals verändert hat, empfand ich stets als ein mein Leben und Schreiben begleitendes Arbeits-, Traum- und Gedankenjournal. Es sammelte sich in den letzten Jahren darin schon einiges an; vieles musste seinen Platz auch räumen“, schreibt Dieter Sperl auf Seite 137, kurz vor Schluss, über Von hier aus. Diary Samples. Konzentrierte Auslese und Montage sind der Zusammenschau an Notaten offensichtlich zugute gekommen, denn die Lektüre ist kurzweilig und gibt anregend Einblick in das, was, salopp gesagt, dem 1966 geborenen Österreicher zeitweise durch den Kopf treiben mochte, spielerisch leicht wie Schneeflocken (in Hinblick auf die hier geäußerte meterologische Vorliebe) oder der Wind, der sie trägt …

Es passt nicht schlecht zu diesem Buch, dass man von hier aus, von einem Bild wie: Schneeflockentreiben unter der Hirnschale, nur einen Assoziationshüpfer braucht hin zum populären (nicht minder hilfreichen) zen-buddhistischen Rat, seine Gedanken und Gefühle vorm „inneren Auge“ vorbeiziehen zu lassen wie die wechselnde Wetterlage. Wer vor diesem Hintergrund ein gleichsam „nach außen offenes“, d.h. als Publikation gedachtes Journal anlegt – den interessiert am Schreiben vielleicht weniger das „Festhalten“ als das Loswerden der Gedanken – die dann aufs Papier bzw. in den Bildschirm eher zu bannen sind als dort zu konservieren. (Und die letztlich ohnehin in LeserInnenköpfen ihr Eigenleben führen, sich verwandeln, verpuffen – panta rhei.)

Aber der Reihe nach: Zen-Buddhismus ist eines der Themen, die Dieter Sperls Journal prägen, und – in Variation, Perspektivwechsel und Wiederkehr – diese Montage aus Aphorismen, Reflexionen, Notizen und Zitaten strukturieren. Weitere sind: Fußball, Kulinarik, Kindheit und Jugend in Österreich, Träume, Filme, Alltagsbegegnungen und -sentenzen, Poetologisches … Keine Frage, man hätte die einzelnen Sentenzen auch nach solchen thematischen oder ähnlichen Kategorien auflisten können … dann, freilich, wäre es ein anderes Buch geworden, das unsere Aufmerksamkeit stärker, wohl zu stark, auf die einzelnen Themen und Motive lenkte statt auf den Autor. So aber bewirkt die spezifische, auch an eine Filmmontage erinnernde Form eines „geordneten Chaos“, der Wechsel von Beenden und Wiederaufnehmen einzelner, für Dieter Sperl typischer Sujets, ja, Modi der Weltsicht (bzw. roter Fäden) eine lose Kontinuität, die Spannung erzeugt. Oder auch: Neugier auf denjenigen, an dessen facettenreichen und weitgefächerten Eindrücken, Beobachtungen, Überlegungen und Erinnerungen man lesend teilhat.

Dieter Sperl, liest man, ist unter anderem praktizierender Zen-Buddhist. Einmal erwähnt er einen „Meister“, mehrmals zitiert er u.a. aus zen-buddhistischen Werken. Ein Mensch, scheint es, der nach einem gelassenen Weg durch dieses sonderbare Dasein sucht und der – selbst im Rückblick auf eigenes Erleben – einen Zustand geistiger Offenheit anpeilt bzw. sein Ego nicht wichtiger nehmen will als eine vorbeisummende Fliege. So einem begegnet man freundlich. Noch immer ist ja das Tagebuch oder Journal – und sei’s das Arbeits-, Traum- und Gedankenjournal – die Textsorte fürs Intime: ein wenig, als betrachte man, ganz Lektürevoyeur, den vorbeiziehenden Stream of Conciousness eines Nebenmenschen, die daraus gefischten, blankpolierten und kunstvoll montierten Highlights einer abwechslungsreichen Treibgutsammlung. Deren Einzelobjekte mal an der Oberfläche, mal tief und tiefer unten schwammen, also verschiedene Ebenen der Wahrnehmung, Reflexion und Konzentration repräsentieren … freilich sind’s immer nur Worte (in denen man dann herumkramt wie in einem Haufen Handspiegel, oder auch nicht). Und freilich hat Dieter Sperl nichts weniger im Sinn als eine Entwicklungsgeschichte à la „Ein Pfad der Erleuchtung“ oder überhaupt eine „Geschichte“. Das Fragment und seine Offenheit gehört hier zum – die Avantgarde längst reflektiert habenden – Programm, und in diesem Kontext sind auch die in die Diary Samples aufgenommenen Zitate und Kochrezepte als Fragmente zu lesen.

„Nicht nur, dass du Geschichten für bestimmte Zweckzusammenhänge konstruierst; du brauchst zugleich die Fähigkeit zur Dekonstruktion derselben, damit du deren Tendenz, sich absolutistisch zu gebärden zu durchkreuzen vermagst. (…)“, heißt es einmal. Ein andermal unterscheidet Sperl zwei Typen von Schreibenden – den „begrenzten Schriftsteller“ und den „unbegrenzten Poet“. Ersterer, Typus: kalkulierender Literat, lasse sich von „diesem und jenem anregen“, schreibe danach seine Texte, welcher Gattung auch immer, und lebe „klarerweise von den Erwartungen und Enttäuschungen einer storyhungrigen und inhaltsdürstenden Leserschaft“. Der zweite nehme alles (zum Stoff), „was ihm der Augenblick beschert“ und der „Akt des Schreibens ist ihm wie das Verfertigen einer Kalligraphie für den Kalligraphen: Das Auf- und Abnehmen einer Kraft, die sich momentlang in einer historisch sozialen Wirklichkeit ausbreitet, um sodann wieder verschwunden zu sein, als hätte es sie nie gegeben.“ Entsprechend heißt es weiter, dass auch die „Elaborate“ des Poeten von „der Öffentlichkeit“ kaum wahrgenommen werden und falls doch, nicht ohne den Vorwurf, man sei unsozial und lebe in einem Elfenbeinturm.

Der Vergleich ist zugespitzt, vielleicht zu schwarzweiß gedacht (oder zu heftig empfunden), ohne Rücksicht auf die vielen Schattierungen – sich ergebend u.a. aus dem Dilemma, dass jeder Künstler von „etwas“ leben muss. Oft genug müht sich ja auch die marktkompatible Erzählerin um veritable Literatur (mitunter gelingt’s) oder der „unbegrenzte Poet“ richtet sich nach der gängigen Literaturmode und träumt vom Bestseller, sprich: vom Leben ohne finanzielle Sorgen, mit angemessener Entlohnung und Anerkennung … Keiner soll glauben, es gäbe, zumal professionell, Schreibende, die nicht nach Publikum Ausschau hielten (dem ewigen Versprechen verstehender Leser). Da wäre noch stärker zu differenzieren gewesen. Oder der Zusammenhang zwischen Schreiben und Veröffentlichen zu berücksichtigen, um von weiteren Abhängigkeiten und zwangsläufigen Einflüssen zu schweigen …

Auf der anderen Seite – Stichwort: Prinzip des Augenblicks, der völligen Offenheit dem „Jetzt“ gegenüber – vermitteln solche Unschärfen (oder manche Metapher in leichter Schieflage) den Eindruck des Spontanen, was teils zum „(ernsthaften) Charme“ dieses Werkes passt.

Den „langsameren“ Reflexionen über Kunst und/oder Leben stehen zudem präzise beobachtete Alltagsszenen gegenüber, die quasi als lakonische Berichte zu Oberflächenphäomenen des Daseins treffender und „tiefsinniger“ (im Positiven) kaum sein könnten – so etwa Sperls Aufzeichnung einer gespenstischen Silvesternachts-Szene mitten in Wien, als er eine junge Frau beobachtet, die sturzbetrunken und mit zum Hitlergruß erhobenen Arm in der Mitte der Straße geht. Oder seine Erfahrung als Deutschlehrer mit jugendlichen und erwachsenen Schülern, Schülerinnen, aus verschiedensten Ländern und Gesellschaftsschichten – wobei das tägliche Willkommenheißen, jede Geste, jedes Lächeln, wichtiger gewesen sei, als der Unterrichtsstoff … Diese Unbestechlichkeit der Wahrnehmung: möglicherweise Resultat des Augenblicklichen. Wobei Nähe z u m bzw. Existenz i m Jetzt bedeuten kann, das Unfertige (siehe: Fragment) zu akzeptieren. Kompliment!

Der Titel Von hier aus spiegelt das wider: keine Endstation, nur ein Aufenthalt, von dem aus ein neuer Reise-Abschnitt beginnt. Aber kurze Texte, die immer wieder Geistesblitze entzünden. Sätze, die mit der Leichtigkeit von Schneeflocken die Gewichte der „Welt“ – wie „man“ sie zu kennen meint – verschieben. Und die sich ganz zum Augenblick hin öffnen: „Mit dem Lift fahren wir weit fort von hier“. Oder: „Heute unzählige leere Kilometer, die ich auf dem Bildschirm zurückgelegt habe.“ Oder: „Wohlstandskulissen zeichnen unser Sprechen aus.“ Oder: „Schreiben ist vielleicht die genaueste Bewegung, die am weitesten von mir absieht.“

Auch die im Band enthaltenen Fotografien Dieter Sperls lassen sich als Dokumente des Nahen im Fernen sehen (oder lesen): entstanden auf Reisen, in den U.S.A. (wo er 2009/2010 an der Bowling Green State University in Ohio als „Writer in Residence“ lebte), scheinen sie mit ihren verwackelten Konturen – unter anderem – genau dies zu zeigen: die Nicht-Festlegbarkeit der Dinge, die prinzipielle Unbekannte in jeder Wahrnehmung, die Offenheit des ewigen „Jetzt“ … Apropos – einmal steht da: „Jede Wahrnehmung ist verkaufbar“. So gesehen, wären die Diary Samples eine Mezzie (deutsch: Schnäppchen) – das heißt, andererseits: unbezahlbar.

Von hier aus. Diary Samples.
Klagenfurt, Graz: Ritter Verlag, 2012.
141 Seiten, broschiert mit Fotografien des Autors.
ISBN 978-3-85415-48-5.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 03.07.2012

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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