Die Rede, in der Matejka dieses Bekenntnis zu einem umfassenden Kulturbegriff ablegte, stammt vom Sommer 1945 und hat den Titel „Was ist österreichische Kultur?“. Sie sollte als „Benutzerhandbuch“ jedem Beamten am Wiener Minoritenplatz bei seiner Einstellung ausgehändigt werden. Dass dieses Nachkriegsmanifest nun in der Zeitschrift „Spurensuche“ abgedruckt wurde, die in ihrem neuen Heft an den 1993 verstorbenen, großen österreichischen Volksbildner Viktor Matejka erinnert, macht sie allein schon verdienstvoll. Als Medienkonsument freut man sich außerdem darüber, dass es zum Gedenken an den Wiener Kulturstadtrat der Jahre 1945 bis 1949 keines Anlasses in Form eines runden Geburts- oder Todestags bedurfte. Nein, der Zustand der Kulturpolitik im Allgemeinen ist Grund genug, Matejka eine Ausgabe zu widmen. Denn wie hätte der polternde Bildungspolitiker etwa die Diskussionsrunden der sich in Musealisierung der Kunst überbietenden Musuemsdirektoren qualifiziert? „Kulturgeschwätz, das in der Konservierung der Kulturgüter und der Bildungsmittel eines Volkes die Hauptarbeit für die Kultur“ sieht. Für Matejka selbst dagegen war die Durchdringung sämtlicher Lebensbereiche mit Kultur die Aufgabe der Kulturpolitik. Wie ernst er das meinte, bewies er nach dem Studium der Geschichte und der Geografie an der Universität Wien ab dem Frühjahr 1934 als Bildungsreferent der Wiener Arbeiterkammer und als Leiter des Volksheims Ottakring. Dass dieser Posten nach dem Februar 1934 und der darauf folgenden sukzessiven Gleichschaltung durch die Vaterländische Front bereits eine Einübung in den Widerstand war, den Matejka sämtlichen Formen des Faschismus gegenüber an den Tag legte, beschreibt der Bibliothekar Heimo Gruber in seinem Beitrag „Für die ‚Demokratisierung des Buches'“. Sein Aufsatz ergänzt den neue Erkenntnisse bietenden Einstiegsessay von Renate Lotz-Rimbach „Zur ideologischen Kriegserklärung der Vaterländischen Front an die Volkshochschule ‚Volksheim‘ Ottakring“.
So beweist die deutsche Historikerin etwa die unselige Rolle, welche der Philosoph und spätere Rektor der Universität Wien, Leo Gabriel, bei der schleichenden Aushöhlung der Meinungsfreiheit spielte. Scharf griff Gabriel „die neutrale Volksbildung“ an, worunter er eine verstand, die „lediglich als Wissensverbreitung und Vermittlung von praktischen Fertigkeiten“ diente anstatt sich in den Dienst „einer einheitlichen Weltanschauung“ zu stellen. Karl Lugmayer, der christlichsozial orientierte Volksbildungsreferent für Wien, verteidigte hingegen Matejka und das Volksheim Ottakring, solange es ging. Spätestens das Juliabkommen von 1936 zwischen Österreich und dem Deutschen Reich, so Heimo Gruber, beendete aber die – im Vergleich zu Hitlerdeutschland – liberale Phase des Ständestaat- Regimes gegenüber den Volksbildungseinrichtungen.
Matejka ahnte schon sehr früh, was danach kommen würde. Bereits in den Zwanzigerjahren hatte er „Mein Kampf“ gelesen und in einer 1932 erschienenen Publikation vor dem Nationalsozialismus gewarnt, berichtet der Historiker Christian H. Stifter in seinem Beitrag. Folgerichtig war Matejka unter den ersten, die im Frühjahr 1938 ins KZ Dachau verbracht wurden. Dort und eine Zeit lang im KZ Flossenbürg wird Matejka Häftlingsbibliothekar. Im brisantesten Beitrag des Heftes berichtet der Bremer Universitätsprofessor Jörg Wollenberg, wie listig Matejka die in Fragen der Literatur ahnungslosen SS-Leute austrickste. Es gelang ihm zum Beispiel, die beschlagnahmte Literatur neu eintreffender Häftlinge in die Bibliothek einzuschmuggeln, darunter nicht nur Karl Kraus‘ „Die letzten Tage der Menschheit“, sondern auch Bücher von Friedrich Engels, Franz Kafka, Heinrich und Thomas Mann, Robert Musil und etlichen anderen. Die Lagerbücherei entwickelte sich zum Widerstandsnest innerhalb des KZs. Ein hohes Risiko ging Matejka mit seinen „Pickbüchern“ ein: Als ihm erlaubt wird, verschiedene Zeitschriften von seiner Frau zugeschickt zu bekommen, montiert („pickt“) er aus Aufsätzen daraus subversive Artikel und verteilt sie an vertrauenswürdige Häftlinge. Ein besonders düsterer Abschnitt in Wollenbergs Aufsatz berichtet von den Auseinandersetzungen zwischen sozialdemokratischen und kommunistischen KZ-Häftlingen, die nach dem Krieg ihre Fortsetzung fanden. Matejka beschuldigte nach 1945 den SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher mehrfach, dem brutalen KZ-Kapo Karl Kapp und seiner Kollaboration mit der SS „Rückendeckung“ verschafft zu haben. Im Gegenzug bezeichnete der prominente sozialdemokratische Programmatiker Benedikt Kautsky, vor 1938 Kollege Matejkas in der Wiener Arbeiterkammer und danach ebenso KZ-Häftling, den kommunistischen Kulturstadtrat Wiens als „christlichsozialen Austrofaschisten“. Damit sprach er einen Punkt an, in dem Matejka sich aus der Sicht von Parteiideologen tatsächlich angreifbar war. Da der ehemalige „Linkskatholik“ dem Marxismus als Weltanschauung fernstand, war er 1945 nicht unbedingt aus Überzeugung für die kommunistische Sache der KP beigetreten, sondern aus Antinazismus. Deshalb blieb er auch als Parteifunktionär ein unabhängiger Linker, der Stalin ebenso kritisierte wie mit den Nazis kollaborierende Sozialdemokraten. Daher kam es unausweichlich zu heftigen Disputen mit der Führung der KPÖ sowie zu Konflikten mit seinen beiden Mitherausgebern der Kulturzeitschrift „Tagebuch“, Bruno Frei und Ernst Fischer, die 1957 zum Ausscheiden Matejkas aus dem Zentralkomitee sowie zur Beendigung seiner Herausgeberschaft bei der Zeitschrift führten.
Dass Matejka als Quasi-Chefredakteur des „Tagebuchs“ nicht immer mit lauteren Mitteln seine Parteikollegen ausschaltete, bestätigte er später selbst: „Diktatorische Dummköpfe muss man betrügen. Das ist meine Ethik“, sagte er in einem Interview. Angesichts der über Parteigrenzen hinweg akzeptierten Kommerzialisierung der Kultur liegt vielleicht gerade darin seine Bedeutung für die Gegenwart. Matejka machte – lange bevor die Kultur per Sponsoring zum Rahmenprogramm wirtschaftlicher Aktivitäten verkommen ist – unmissverständlich klar, dass es ein Zeichen von Unkultur ist, wenn eine Elite sich darin gefällt, ihre „Hochkultur“ subventionieren zu lassen und große Teile der Bevölkerung den Eventmanagern überlässt: „Ein Volk ist nur dann ein Kulturvolk, wenn seine Wirtschaftsstruktur es allen Schichten der Bevölkerung ermöglicht, an den von einer Minderheit viel gepriesenen Kulturgütern teilzunehmen“, so Mateka in der erwähnten Rede. Dass sein politisches Einzelgängertum mitunter Starrköpfigkeit nach sich zog, war wohl unvermeidlich. Etwas mehr von seiner Querköpfigkeit, seiner Listigkeit und seinem Humor hätte man – bei aller Anerkennung – auch den Beiträgen der Zeitschrift gewünscht.