Charlotte Jaekel liest den Roman neu – vor dem Hintergrund von Vischers Auseinandersetzung mit Hegel, seiner sechsbändiger Ästhetik oder Wissenshaft des Schönen (1846–1858) und sie tut das mit einem modernen Instrumentarium, u. a. mit Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie und der zentralen Frage nach möglichen basalen Irrtümern und blinden Flecken des rationalen Moderne-Verständnisses. Der Begriff „Agency“ beschreibt „die Verteilung von Akteurspotential unter menschlichen sowie nicht-menschlichen Akteuren in operationalen Ketten, wodurch der Anteil der letzteren an den Operationen – über ihre Zuschreibung als bloß menschlichen Akteuren dienende oder deren Intentionen ausführende Werkzeuge hinaus – beobachtbar wird“ (S. 13). Ist die Vorstellung von lebenden Dingen und Animismus in „vormodernen“ Kulturen wie im Märchen eine Selbstverständlichkeit, ist sie in der Moderne nur noch Kindern und Wahnsinnigen zugehörig.
Um 1800, so die These, verstärkt sich mit der Zunahme der industriell produzierten Dinge, also ihrer tendenziellen quantitativen Übermacht, das Interesse für die „Bagatelle“, das unscheinbare Ding im banalen Alltag, vor allem im denkerischen Freiraum der Literatur. So setzt Vischer anstelle des Hegelschen Weltgeistes die Aufsässigkeit der Dinge, denn ihre „Akteursmacht“ wird vor allem „über ihre Widerständigkeit bemerkbar“. Das kennen wir alle aus unserem Alltag, auch wenn wir als rationale Zeitgenossen dieses Eigenleben bloß scherzhaft unterstellen.
Vischers Roman, dessen Protagonist Einer/Einhart „die Züchtigung widerständiger Dinge im Lauf der Geschichte immer plausibler“ (S. 180) findet, zeigt den „Vorzug literarischer Kommunikation“: Sie kann „die Mängel unserer lebensweltlichen Erklärungsmuster adressieren und mit möglichen Alternativen experimentieren“ (S. 185). Während der Weg der Moderne und die Aufgabe der Philosophie laut Hegel auf die Eliminierung des Zufalls abzielt, also eine „Reinigung“ vom Zufall anstrebt, bedenkt Vischer in seiner Philosophie wie in seiner Literatur „die zufälligen Störungen des Unvernünftigen konsequent mit“ (S. 189). Einer/Einhart kämpft mit den Tücken des Schreibwerkzeugs (S. 246–258) genauso wie er für die Wiedereinführung „der Prosa des Alltags“ plädiert und gegen die Trennung in „oberes“ (das Hohe) und „unteres Stockwerk“ (die kleinen Dinge und Banalitäten des Alltags) bei Schiller polemisiert (S. 239). Der „Kollision des Moralischen mit dem Trivialen, den alltäglichen Dingen“ (S. 201) ist dabei eine Komik inhärent, die den Slapstick auszeichnet und oft mit der Inkohärenz im Verhalten der menschlichen Akteure verschaltet ist.
Vischers „Tücke des Objekts“ hat sich zweifellos eine „Bürgerrecht in der realen Welt“ (Umberto Eco) erworben. Nicht zuletzt Sigmund Freud reagierte 1904 in seiner Abhandlung Zur Psychopatholgie des Alltagslebens direkt auf Vischer und versuchte „die Widerständigkeit der Dinge bei Vischer in das Innere“ zurückzuverlagern und als „Fehlleistungen des Individuums“ zu begreifen. Im Sinne der Moderne wollte Freud „von einer Verschiebung von Handlungsmacht nichts wissen“ (S. 285). Mit kurzen Verweisen auf Doderers Merowinger oder Kafkas Erzählfragment Blumfeld ein älterer Junggeselle eröffnet der Band am Ende eine Option für weiterführende Analysen, bei denen man spontan auch an den Vischer-Zeitgenossen Wilhelm Raabe mit seiner Erzählung Keltische Knochen oder seinen Namensvetter Melchior Vischer denken könnte.
Charlotte Jaeckel verbindet ein komplexes Theoriegebäude mit sorgfältiger Arbeit an den untersuchten Texten – und sie tut das mit einer sprachlichen Klarheit, die das Lesen nicht zu einem Kampf mit den Tücken der Wissenschaftsprosa macht, sondern zu einem Vergnügen.