#Roman

Visum nach Amerika

Salamon Dembitzer

// Rezension von Sabine E. Dengscherz (Selzer)

„Der Grund, warum der Verfasser das Buch nicht vollendet hat, ist der, daß ihm heute diese entsetzliche Flucht wie eine Lust- und Vergnügungsreise erscheint, in Anbetracht dessen, was nachher den Zurückgebliebenen widerfahren ist, besonders seinen sechs Millionen Stammesgenossen.“ (290) Einer dieser sechs Millionen war der Bruder des Autors: Chaim Nussyn Dembitzer. Ihm hat Salamon Dembitzer seinen Roman(bericht) Visum nach Amerika gewidmet.

 

Bei der Lektüre des Buches ist die Leserin allerdings keineswegs versucht, an eine „Lust- und Vergnügungsreise“ zu denken. Im Gegenteil: Dembitzer schildert die psychischen und körperlichen Belastungen der Flucht äußerst beklemmend. Zusammengepfercht in Eisenbahnwaggons werden die Massen durch belgische und französische Landstriche gekarrt. Draußen geht der Frühling allmählich in den Sommer über, die Flüchtlinge wissen kaum noch, wann und wo sie sich befinden. Und schon gar nicht, wo die Reise hingeht.

Die Odyssee durch Westeuropa beginnt an der belgisch-französischen Grenze, auf der Flucht vor den deutschen Bomben versuchen Tausende schlagartig heimatlos gewordene Menschen, einen offenen Grenzübergang nach Frankreich zu finden. Nicht jeder Grenzübergang darf von jedem überschritten werden. Besonders schwer ist es für polnische Staatsbürger einen Weg nach Frankreich zu finden, der auch von ihnen passiert werden darf.
Und vom ersten Tag an herrscht Unsicherheit: Mit welchen Papieren, von welchem Amt ausgestellt, von welchem Konsul welchen Landes unterschrieben, über welche Städte, welche Dörfer, welche Meere führt der Weg in die Freiheit? Wohin werden die Deutschen bestimmt nicht kommen?

Der Text trägt starke autobiographische Züge. Dembitzers alter Ego Sylvian Horn ist Schriftsteller und Journalist, in Krakau geboren, Jude auf der Flucht vor den Nazis. Wir schreiben das Jahr 1940. Unterwegs ist Horn mit seiner arischen Geliebten Malvine van Gent, der fehlende Trauschein ein steter Stein des Anstoßes, weniger bei der Zimmersuche als beim Kampf um Passierscheine, Ausreise-, Transit- und Einreisevisa sowie der Bitte um behördliche Unterstützung. Im Kampf ums Überleben haben Moral und bürgerlicher Anstand nur noch ein Ventil: den Fingerzeig auf die Sünde.

Ansonsten manifestieren sich eher menschliche Schwächen aller Art. Der Roman rührt ein Tabu an, wie Ursula Seeber im Nachwort schreibt: „das Faktum, daß Menschen, gleich ob Frau oder Mann, Deutscher oder Portugiese, Jude oder Christ, Opfer oder Zuschauer, durch Gewalterfahrung und Leidensdruck nicht zu besseren Menschen werden.“ (309)
Dies ist für Sylvian Horn alias Salamon Dembitzer eine bittere Erfahrung. Sarkastisch – und doch mit spürbar emotionaler Nähe zum Text und zum Geschehen – beschreibt er, wie alle nur noch das eigene Wohl und Wehe im Blick haben. Menschlichkeit wird zum Luxus für Friedenszeiten und die Wohlstandsgesellschaft.

Viele unsympathische Figuren bevölkern den Roman, die Namen sind sprechend, manche sehr treffend, manche etwas zu offensichtlich. So spitzelt Senhor Stoffmann für die Polizei, die Abschaums werden wie solcher behandelt, Dr. Seelenhändler macht gute Geschäfte als falscher Zahnarzt und der Ing. „Engel“ Gabriel lässt sich hofieren und bewundern. Trotz der täglich neu ankommenden Massen ist die Welt der Flüchtlinge ein Dorf geblieben, in dem man immer wieder alte Bekannte trifft, die denselben Weg genommen haben, sich in denselben Städten auf die Suche nach immer wieder neuen Zimmern und immer wieder neuen Papieren begeben. Und über all diesen Warteschlangen vor den Konsulaten aller Herren Länder schwebt vor allem eine Hoffnung: ein Visum nach Amerika zu ergattern.

Wir verlassen die Schicksalsgemeinschaft im letzten Kapitel in Lissabon, dem letzten freien Hafen Europas. Die Protagonisten haben ihr Ziel noch lange nicht erreicht, sie müssen weiter kämpfen, weiter zittern und weiter warten. Wochenlang: „Der Bericht hätte natürlich ordnungsgemäß ergänzt und abgeschlossen werden können, denn die folgenden Tage waren nicht minder ereignisreich, spannend und aufreibend.“ (290) Aber angesichts viel schrecklicherer Schicksale als dem seinen verstummt der Autor. Er hat überlebt. Und auch seine Figuren werden leben. Das ist schon viel wert in diesen Zeiten.

Salamon Dembitzer Visum nach Amerika
Roman.
Nachwort von Ursula Seeber.
Bonn: Weidle, 2009.
314 S.; brosch.
ISBN 978-3-938803-13-4.

Rezension vom 19.05.2009

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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