#Prosa

Virusalem

Helmut Neundlinger

// Rezension von Astrid Nischkauer

Gesang aus dem Bauch des Wals.

Ich? Du? Wir?
Die anderen? Die Dinge? Die Räume?
Virusalem. Gesang aus dem Bauch des Wals. von Helmut Neundlinger enthält sowohl Prosa als auch Gedichte, beides wird ineinander verzahnt. Ich möchte zunächst ausschließlich auf die Gedichte eingehen, da die Prosaeinschübe das Verständnis der einzelnen Gedichtkapitel als ein zusammengehöriges Ganzes eher erschweren. Mit Virusalem, geschrieben während des ersten Lock-Downs, erschienen kurz vor dem zweiten, flüchtet Helmut Neundlinger nicht vor der derzeit vorrangig durch die Pandemie geprägten Wirklichkeit, sondern stellt sich ihr, um sie interessiert zu untersuchen und von verschiedenen Blickwinkeln her zu beleuchten. Zunächst richtet sich der Blick durch die schlagartig von außen auferlegte Isolation notgedrungen auf das eigene Ich, auf das man, ist man von allem abgeschnitten, zurückgeworfen ist.

Nachrichten von mir
kommen zu mir zurück.

Mit dem ersten Lock-Down im Frühjahr brachen gewohnte Strukturen und Tagesabläufe von einem Tag auf den anderen ersatzlos weg. Dieser Einschnitt wird im Band als „Tag Null“ bezeichnet und anhand von Selbstbeobachtung wird versucht, die Auswirkungen zu begreifen und begreifbar zu machen. eine davon ist eine veränderte Zeitwahrnehmung, gibt es plötzlich doch keinerlei Termine mehr:

Die Tage verlaufen sich
ohne Schwelle.
Ich brauche die Tür nicht zu öffnen,
um einzusteigen,
der Augenaufschlag genügt.

Eine andere Auswirkung der Pandemie ist die Distanzierung der Menschen voneinander aus Angst einer möglichen Ansteckung. Sehr überspitzt formuliert und damit ungemein schmerzvoll zu lesen ist das Gedicht „Distanzgerede“, das die Angst des Ichs um die eigene Gesundheit in reine Homophobie umkippen lässt:

Dein Mund, weil wir
schon einmal dabei sind:
Halte ihn von mir weg,
wenn du schon atmen musst,
während du redest.

Die Gedichte sind unterteilt in sechs Kapitel, die in der Kapitelüberschrift jeweils eine Frage formulieren: Ich? Du? Wir? Die anderen? Die Dinge? Die Räume? Liest man alle Überschriften zusammen, versteht man viel von der Konzeption des Bandes. Denn zunächst im ersten Schockmoment wird man in der Isolation zurückgeworfen auf das eigene Selbst und es wird aus der Ich-Perspektive geschrieben. Erst nach und nach nimmt man das Außen dann wieder wahr und die Aufmerksamkeit richtet sich aud die anderen und in einem nächsten Schritt auf die Dinge und Räume. Das Ganze lässt sich als eine Bewegung verstehen, als ein langsames Zurücktasten, eine allmähliche Ausweitung des eigenen Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsradius. Die extreme Auseinandersetzung im ersten Kapitel „Ich?“ mit dem eigenen Ich führt zu einer richtiggehenden Selfilosophy und im nächsten Kapitel „Du?“ dann dazu, dass der eigene Körper zum Gegenüber wird, zum Du.

Hast du deinen Körper je wahrgenommen
als dein dir gegebenes,
täglich zu pflegendes Nächstes?

Das Du, das in den Gedichten im zweiten Kapitel angesprochen wird, ist der eigene Körper und das eigene Selbst in einem verzweifelten Versuch, im Selbstgespräch einen Ausweg aus der Einsamkeit und wieder etwas Distanz zu sich selbst zu finden. Im Kapitel „Wir?“ geht es um Gebote der Stunde, die von einer „Ordnungsschutzmacht“ einem allgemeinen, aber unbestimmt bleibenden Wir verkündet werden.

Gebot der Stunde: Leben
hinter vorgehaltener Hand.
Leben Sie ruhig weiter,
meine Damen und Herren,
aber machen Sie es
bei geschlossenen Türen und Fenstern.

So ist es gut. So wird alles gut.

Im Kapitel „Die anderen?“ rücken dann tatsächlich einzelne Individuen ins Blickfeld. Und zwar Mitmenschen, die mit der Extremsituation nicht zurecht kommen und aus Verzweiflung entweder verrückt handeln und damit auffallen und in den Nachrichten auftauchen, oder aber sich völlig in sich und ihre Einsamkeit zurückziehen.

Schneckenhäuslerin
nennt sie sich,
seit Wochen hat sie
kein Ausgehbedürfnis.

In „Die Dinge?“ geht es dann unter anderem um Lebensmittel und Luxusartikel. In „Die Räume?“ schließlich scheint der erste Schockmoment gänzlich überwunden und das eigene Gleichgewicht in der Konzentration auf das Wesentliche („Licht, Sauberkeit, Funktionalität“) und in emsiger Tätigkeit gefunden worden zu sein:

Blatt und Blatt schreiben wir voll,
ohne aufzuschauen,
um nicht abgelenkt zu werden
vom Pulsieren des Raumes.

Damit werden von Helmut Neundlinger in Virusalem sehr viele Aspekte und Auswirkungen des ersten Lock-Downs auf die menschliche Psyche verhandelt. Was allerdings auffällt ist, dass aus einer relativ sicheren Beobachterposition heraus geschrieben wird und das seltsame Verhalten einzelner Individuen erstaunt, aber aus sicherer Entfernung heraus, vielleicht auch am Fensterbrett lehnend und von dort aus in die still gewordene Welt hinaus blickend beobachtet wird. Was fehlt dabei? – Nicht thematisiert werden beispielsweise akute Existenzängste wegen Jobverlust oder einem durch Kurzarbeit bedingten geringeren Einkommen. Angst um besonders gefährdete Menschen im eigenen Umfeld kommt auch nicht zur Sprache. Und Schmerz und Verzweiflung darüber, von geliebten Menschen getrennt zu sein, ist auch nicht wirklich zu spüren in den Gedichten von Helmut Neundlinger. Das muss aber nicht heißen, dass es all das nicht doch versteckt zwischen den Zeilen zu finden gibt. Denn Virusalem ist im ersten Lock-Down geschrieben worden und dann so rasch wie möglich erschienen. Es schneit ein Selbstschutzmechanismus der menschlichen Psyche zu sein, sich in extremen Ausnahme- und Krisensituationen nicht in die eigene Verzweiflung hinein zu steigern, sondern vorwiegend positive Signale nach außen zu senden. Zumindest erlebte ich in Gesprächen nach dem ersten Lock-Down, dass viele die eigene Verzweiflung erst nachträglich kommunizieren und artikulieren konnten. Nach wiederholtem Lesen fällt mir eine Stelle ganz zu Beginn auf, die mir auch dieses Phänomen anzusprechen scheint:

In den Eingeweiden der Sprache
formt sich ein Schrei
und entfährt mir
lautlos.

Der Titel Virusalem ist selbsterklärend und sehr einprägsam, Klagemauer konnte ich aber keine finden im Band. Der Untertitel „Gesang aus dem Bauch des Wals“ weckt Assoziationen an Walfischgesang ebenso wie an menschlichen Gesang, der aber nur sehr gedämpft zu uns dringt, weswegen vielleicht nicht jedes Wort zu verstehen ist. Das im Untertitel und mehrmals im Band vorkommende Motiv von Jonas im Bauch das Wals vermittelt und das Gefühl, dass das sprechende oder singende Ich zwar abgekapselt, aber gut aufgehoben und in Sicherheit ist. Das wird auch in dem Band als Motto vorangestellten Zitat von Hamed Abboud ausgedrückt:

Du befindest dich in umfassender Sicherheit,
su umfassend wie die Dunkelheit im Bauch des
Walfischs in der Tiefe des Meeres.

Eingeschoben zwischen den Gedichten ist eine leicht surreal anmutende Erzählung von zwei Freunden, die völlig auf sich gestellt im Jeep ins Ungewisse fahren und schließlich ihr Ziel erreichen, die Apotheke zum guten Hirten und nicht die Walfischapotheke im siebenten Wiener Gemeindebezirk, wie der Untertitel „Gesang aus dem Bauch des Wals“ nahe legen würde. Man kann diese Erzählung in gewisser Hinsicht auch als fiktive Kompensation oder Ausflucht lesen, da die beiden Protagonisten das machen, was dem schreibenden Ich im Lock-Down unmöglich geworden ist: Sie fahren scheinbar völlig plan- und ziellos mit dem Auto durch die Gegend. Als sich am Ende herausstellt, dass sie doch ein Ziel hatten, und zwar eine Apotheke, passt sich diese Erzählung nachträglich wieder in das Lock-Down-Setting ein. Rätselhaft wird die Erzählung gerade durch ihre Fragmentierung und ständige Unterbrechung. Während die Gedichte durch mehrmaliges Lektüre an Tiefe gewinnen, ist die Erzählung beim erstmaligen Lesen am stärksten.
Ungewöhnlich ist die spezielle Art der Kombination von Prosa mir Gedichten – die Prosaerzählung wird immer wieder von den Gedichten unterbrochen, was zu einem ineinander verzahnten Nebeneinander führt.
Die ersten beiden Prosateile tragen die musikalischen Bezeichnungen „Präludium (Protokoll)“ und „Interludium (Protokoll)“, was in der Musik für Vorspiel und Zwischenspiel steht. Das dritte Kapitel setzt diese Reihe fort und trägt den Titel „Deludium tremens (Protokoll)“ – möglicherweise eine Zusammenführung der Gruppe „Deludium Skies“ oder des Liedtitels „Deludium“ von „Running Death“ mit dem medizinischen Begriff „delirium tremens“, das bei (Alkohol-)Entzug auftreten kann. Im nächsten Kapitel wird dann aus dem „Präludium (Protokoll)“ des ersten Prosaabschnittel ein „Postfluidium remedium (Protokoll)“, ein nachträglich wirkender Heiltrank, zugleich aber auch eine Anlehnung ans „Postludium“, ein musikalisches Nachspiel. Und dann gibt es noch, wie bei musikalischen Aufführungen so üblich, zwei Zugaben: „Im Bauch des Wals (Landung?)“ und „Verzeichnis möglicher Gewinne“. Auf ein „da capo al fine“ verzichtet Helmut Neundlinger, ich möchte es aber allen Lesenden empfehlen, da vor allem die Gedichte sich einem bei mehrmaliger Lektüre nach und nach immer besser und umfassender erschließen.

Helmut Neundlinger Virusalem
Prosa.
Salzburg: Müry Salzmann, 2020.
80 S.; geb.
ISBN 978-3-99014-207-3.

Rezension vom 18.11.2020

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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