Nun also Viktor. Gefängniswärter von Beruf, Beamter in sogenannter gesicherter Position und gewaltbereit. Tief ist der Sumpf aus Machtspielen, Gier, Konkurrenz und Funktionieren-Müssen und Viktor ist darin weniger ein Opfer, ganz im Gegenteil: Sich nach außen hin über die Falschheiten und Intrigen beschwerend, teilt er drinnen selber aus und beim Übervorteilen missliebiger Kollegen und Malträtieren der Häftlinge ist er der letzte, der zurücksteckt. Was „die da oben“ (11) können, kann er da unten auch: „Ehrlich: Wozu Arbeitsstunden in die Staatskasse fließen lassen, Zahlungen für nicht definierte Staatsausgaben mitfinanzieren, die schlussendlich als Subventionierung von Freunderlwirtschaften der oberen Etage zukommen?“ (20). In der Hierarchie nicht ganz oben und nicht ganz unten stehend schlägt er sich durch und „schlagen“ ist hier nicht selten als „zuhauen“ zu verstehen – ein Mann mit Handschlagqualität und die dabei entstehenden Striemen schmerzen nachhaltig und graben nicht nur körperlich Furchen bei den Opfern, ob bei Mona, bei der er eine letzte Beißhemmung verspürt („Eine Frau schlägt man nicht. Eine Frau schlägt man nicht“, 51) oder bei Häftling Nummer 72, bei dem an Viktor mit dem Taser in der Hand die letzten humanen Züge abfahren.
In der Kriminalliteratur wird gerne darauf hingewiesen, dass in Gefängnissen die Welten vor und hinter den Gitterstäben bisweilen nicht wirklich voneinander unterscheidbar sind und die Grenzen leicht verwischen können. In Viktor ist es nicht anders und diese zwielichtige Welt ist hier der „Bau“ (21), wie der Zellentrakt genannt wird. Wie ein Westernheld schafft sich Viktor seine eigenen Gesetze, die er als Korrektiv der bestehenden versteht, als eine Art Outlaw, der sich auch von der Chefetage stets distanziert hält. Die einzigen Gefühle und Zustände, die er kennt, sind Wut und Frustration. Sein Bemühen, die Fassade aus Arbeit, Familie und Statussymbolen unter einen gutbürgerlichen Hut zu bringen, führt zu Müdigkeit und Erschöpfung. Andere Gefühle wurden schon in Kindertagen durch seinen Vater aus ihm herausgeprügelt. Auch Frauen sind für ihn nur Jagdtrophäen, die er sich in seinen Spind pinnt, seine Beziehung zu Mona bemisst er einzig an der Zahl der Verkehre, die sie ihm gewährt und die Finger an seiner Hand sagen ihm, dass diese Zahl abnimmt. Seine anderen Frauen verschafft er sich durch Ausnutzung seiner Machtposition in seinem genau abgezirkelten Revier, seien es Prostituierte, die er für Gefangene einzuschleusen hilft, sei es eine „Tippmamsell auf dem Bürotisch“ (108) diesseits der Gitterstäbe. Hier holt er sich auch die Bestätigung, die seine Eitelkeit nährt – selbst den überzeugten, umweltbewussten Bahnpendler gibt er auch nur aus gekränkter Eitelkeit, weil der Chef ihm einen aus seiner Sicht schlechten Parkplatz zugeteilt hatte. Zum Revier gehört auch eine Handvoll Kollegen, mit denen er nach einer Art Nutzenrechnung verbunden ist. Darunter Freddie, sein einziger Kumpel („Freund“ wäre auch hier das nicht ganz korrekte Wort), der ihm dann und wann Denkanstöße zu geben vermag, die aber ständig in Selbstmitleid enden. Mona wird immer weiter weggeschoben, verdrängt, als „Klotz am Bein. Eigentlich kein Klotz, sondern eine Unberührbare“ (61). Und nicht zuletzt geht es ihm um die „ruhige Kugel“ (41), die er sich mit Gummiwurst und Taser X26 zu verschaffen trachtet. Häftling 72 bekommt das zu spüren, tödlich zu spüren, die offizielle Todesursache bleibt aber Darmverschluss.
Erika Kronabitter entfaltet ein beeindruckendes Psychogramm einer richtigen Kretzen, eines Machos, einer Sorte Mann bzw. Mensch, wie sie nicht schlimmer sein kann: engstirnig, borniert und kleinkariert, dabei den Deckmantel der Normalität und Rechtschaffenheit hochhaltend. Und über Leichen gehend. In „Mona Liza“ werden Monas Entfremdung und Befreiungsversuche in einer poetischen, bilderreichen und vielschichtigen Sprache dargestellt, analog Leonardo da Vincis Technik des Sfumato, bei der Lasurschichten übereinandergelegt werden, um weiche, plastische Übergänge zu schaffen – hier gibt sich auch die bildende Künstlerin, Multimedia-Artistin und Lyrikerin Erika Kronabitter zu erkennen. Viktor hingegen ist ein bewusst nüchterner, kantiger Bericht, fast schon ein Protokoll. Der O-Ton der Figuren reicht oft aus und ist sehr gründlich recherchiert, der Polizeijargon wird authentisch eingefangen. Geschickt werden auch Zitate, darunter sozial- oder naturwissenschaftliche aus Zeitschriften wie dem „Spektrum“ oder aus Texten des Seminarkabarettisten Bernhard Ludwig eingebaut, indem sie etwa von Viktor in einer Zeitschrift gelesen werden. Kommentare erübrigen sich dann an vielen Stellen oder geben erhellende Hinweise auf die gesellschaftlichen und staatlichen Rahmenbedingungen: Nicht allein Viktor, das ganze System wird vorgeführt und kritisch beleuchtet.
Ein solches, von „Viktor mit Staunen“ (29) gelesenes Zitat handelt von den MOFs, den „Menschen ohne Freunden“ (29), die es angeblich braucht, um Unterschiede in der Bevölkerung zu gewährleisten: „Die Verbreitung erfolge auf Basis der Ansteckungsart mittels Grippeviren: In jeder Saison würden MOFs nuanciert unters Volk gestreut. Jedes Jahr auf dieselbe Weise berechenbar“ (29). Gegen Viren dieser Art ist Erika Kronabitters Roman die beste Medizin.