Im sonstigen Leben gehört der früh ergraute, schon etwas breit gewordene Viktor zur materiell sorgenfreien Mittelschicht. Sein Geld verdient er mit der Produktion und dem Vertrieb von Medizintechnik. Mit seiner Frau, einer Rechtsanwältin, hat er keine Kinder – was für die Handlung eine gewisse Bedeutung hat.
Vladimir Vertlibs Roman Viktor hilft erzählt die Geschichte eines Flüchtlingshelfers aus der Sicht eines Mannes, der selbst einmal Flüchtling war. Der Held des Buchs hat mit dem Autor vieles gemein: Wie Viktor ist auch Vertlib jüdischer Herkunft, aus Russland nach Westeuropa emigriert, hat dort studiert und sich dauerhaft niedergelassen – und war während der Flüchtlingswelle an der österreichisch-deutschen Grenze als freiwilliger Helfer im Einsatz.
Über die Jugend Viktors erfährt man in Rückblenden, dass er als Zivildiener im Seniorenheim mit der Schwesternschülerin Gudrun Sex hatte. Sehr viele Jahre später meldet sich Gudrun und eröffnet Viktor, dass sie eine gemeinsame Tochter hätten: Lisa. Lisa ist von zuhause weggelaufen, und zwar direkt in die Arme von AfD-Sympathisanten im fiktiven ostdeutschen Ort Gigricht. Viktor soll sie zurückholen, fordert die hysterisierte Gudrun, weil „Du Jude bist!“. Denn wenn Lisa erst von ihren jüdischen Wurzeln wüsste, würde sie die „Nazischweine“ bestimmt stehenlassen.
In Klammern sei hinzugefügt: Viktor weiß zwar, dass er keine Tochter haben kann, weil er seit einer Kinderkrankheit zeugungsunfähig ist. Aber da er sich immer Kinder gewünscht hatte, schweigt er erst einmal und setzt sich für Lisa ein, als wäre er ihr Vater.
Zwischen Flüchtlingsschicksalen, Tochter-Suche und suspektem rechtem Milieu entfaltet sich nun die Handlung. Das ist teilweise traurig, teilweise komisch, doch der Roman wird eine gewisse politische Verspanntheit nicht los. Der Autor ist merklich darum bemüht, sich nicht angreifbar zu machen.
Andererseits ist die Lage komplex. So nehmen „Onkel Bru“ und „Tante Bee“, wie Lisa ihre Gastgeber nennt, nicht nur an „Gigrida“-Demos teil, sondern haben sozusagen kontrapunktisch auch eine Sammlung afrikanischer Kunst zuhause und so weiter. Umgekehrt geht es genauso: Ein Migrant hat Tochter Lisa zwar nicht an Silvester sexuell belästigt, wofür sie ihn angezeigt hatte. Aber dafür verfolgt der junge Muslim sie in dem kleinen Ort auf Schritt und Tritt, wodurch sie sich bedroht fühlt. Viktor überredet Lisa dazu, die Anzeige gegen den jungen Mann zurückzuziehen. Und schon bestätigt der junge Mann wieder Vorurteile, indem er Lisa wild als „Schlampe“ beschimpft.
Statt tiefer in die Welt seiner Figuren einzutauchen, repetiert Vertlib Argumente, die das Flüchtlingsthema in den sozialen und sonstigen Medien täglich prägen, in vielfacher Umdrehung. Die Figuren bleiben dem Leser fern. Dem Autor ist zugute zu halten, dass er sich nicht an der Befestigung und dem Ausbau des Großen Grabens beteiligt, der „Wutbürger“ und „Gutmenschen“ trennt.
Am stärksten ist Viktor hilft dort, wo der Roman sich doch einmal den Empfindungen einzelner Protagonisten zuwendet, wie gleich auf der ersten Seite, wo Viktor sich angesichts einer Szene im Flüchtlings-Camp an seine Kindheit erinnert. Da windet sich das Kind Viktor, weil ihm in einer Behörde ein ungepflegter alter Mann eine Schokolade hinhält. „Das Kind wusste, dass es die Schokolade haben könnte, wenn es den Fingern erlauben würde, durch sein Haar zu streichen oder seine Wange zu tätscheln …“ Über solch zwiespältige Gefühle hätte man gern mehr erfahren.