Auch hier herrscht totale Kontrolle, die Sträflinge haben keine Namen, sondern nur eine Nummer, jeder Ungehorsam kann zur Hinrichtung durch Strangulation führen. Besonders kennzeichnend für die Lagerinsassen ist der Verlust der Erinnerung an ihre Zeit vor dem Lager: die meisten können sich weder an ihren Namen noch an ihre Familie und schon gar nicht an ihr Verbrechen erinnern. Die Zwangsarbeit, die verrichtet werden muss, ist Feldarbeit, glücklicherweise „nicht zu hart“ und „auch nicht sinnlos“; das Lager ist zwischen unzähligen Feldern einer Ebene angelegt, in der Nähe der „Hauptstadt“ – gemeint sein kann nur Wien. Eben diese Hauptstadt lebt von den Feldfrüchten, die die Sträflinge anbauen. Wie in allen Lagern gibt es auch in diesem Solidarität, eingeschmuggelte Waffen, Fluchtpläne und durchaus schöne Momente des Gesprächs, ja sogar der Freundschaft. (Pop)musik ist übrigens ein wichtiger Teil des Lageralltags: Musikhören ist abends erlaubt, und die meisten Häftlinge, darunter auch der Protagonist „75“, können sich an etliche Liedtexte erinnern (Bob Dylan, Beatles …).
75 ist gleich zu Beginn der Erzählung zufällig in den Besitz einer Waffe mit „vier schuss munition“ gekommen, was ihn dazu ermutigt, endgültig einen Fluchtversuch zu wagen. Entschlossenes Handeln ist gefragt: „er wird nur diese eine chance bekommen. er kann nicht mit dem revolver im gürtel zurück.“ Der Fluchtversuch – an dem sich auch etliche andere Mitgefangene beteiligen – gelingt tatsächlich und 75 befindet sich nach wenigen Stunden in einer fragilen Freiheit. Die Welt außerhalb des Lagers ist – im Unterschied zum Lager selbst – überraschend wirklichkeits- und gegenwartsnah: das österreichische Dorfleben, von allen politischen oder technologischen Umwälzungen unberührt. Die stark katholisch geprägte Lebensweise – es wird gerade eine Messe in der Kirche gefeiert – will nicht so gut mit dem eindeutig im Kontext totalitärer Regime stehenden Straflager und auch nicht mit der Präsenz von Militär, die 75 später in der Stadt auffallen wird, zusammenpassen – dies als nur eine der Ungereimtheiten der Geschichte.
In ebendiesem Dorf begegnet 75 wieder einer jungen Frau, die ihm schon im Lager aufgefallen ist – als einzige Frau musste sie Aufsehen erregen – und die sich offenbar genauso wie er auf Flucht befindet. Mit Hilfe des Dorfpfarrers (der zeitgenössische Leser wird unwillkürlich an Arigona denken!) schließen sich die beiden zusammen und flüchten in die Stadt, wo sie fürs Erste untertauchen wollen. Die Identität der jungen Frau – die übrigens Maria heißt und 75 den Namen Gustav verpassen wird – sowie die Umstände ihrer Flucht werden sich 75 erst später erschließen. Hier beginnt gewissermaßen der zweite Teil der Erzählung, eine kurze Liebesgeschichte, die aus einer Zweckgemeinschaft entsteht. Alles steuert auf ein bescheidenes, unspektakuläres Happy-End hin. Doch so leicht will es Schmitzer dem Leser nicht machen.
Das zweifellos auffällige an diesem Text ist – neben seiner Thematik – sein merkwürdiger Stil. Die Erzählung – übrigens in Kleinschreibung und im Präsens gehalten – ist vom Anfang bis zum Schluss aus kurzen, oft unvollständigen, abgehackten Sätzen gebaut. Von einem Minimalstil kann hier die Rede sein, stellenweise auch von einem filmartigen Sekundenstil: „dann, und kaum bemerkt, findet er sich auf einem schmalen trampelpfad. besser gedeckt, leiser, anstrengender zu gehen. weniger sonnenlicht hier, und dichteres buschwerk. […] an einer seite stückwerk aus dachpappe bis zum boden. bretter fehlen. kurze rast.“ Jede Ausführlichkeit wird vermieden, immer nur das Notwendige gesagt, ohne allerdings auf einige Naturbeschreibungen oder die Wiedergabe der Dorf- und Stadtatmosphäre zu verzichten.
Der allzu reduzierte Erzählton verleiht der Geschichte und ihrem Hauptcharakter – zumindest in der ersten Hälfte – dennoch etwas maschinell-Unpersönliches, die Identifikation mit dem „Helden“ wird trotz einer gewissen Sympathie erschwert. Die minutiöse Wiedergabe der Fluchtszenen und der dazugehörigen Handgriffe erinnert an Kriegsromane; bei aller Spannung wirkt das Geschehen geradezu monoton. Erst mit der Einführung der Frau in die Ereignisse entwickelt die Erzählung einen Sog, hier beginnt sie erst richtig. Als äußerst selbstbewusster, entschlossener und anpassungsfähiger Charakter lässt Maria auch 75 bzw. Gustav gleich plastischer und damit persönlicher erscheinen; mit ihrer jugendlichen, fast kindlichen Spontaneität bleibt sie für die ganze Zeit ihrer kurzen Beziehung die treibende Kraft.
Etwas, das dem Autor fraglos gelungen ist, ist der analytische Aufbau der Handlung: alles erschließt sich erst nach und nach, Unzusammenhängendes fügt sich zusammen, Unlogisches erfährt eine Erklärung. Unklar bleibt allerdings, welche Rolle Maria als Geliebte eines Wächters im Lager gespielt hatte, genauso ihr Entschluss, Gustav zu verlassen. Die für 75 wichtige Tatsache des (teilweisen) Gedächtnisverlusts wird im Laufe der Erzählung immer unglaubwürdiger: warum erinnert sich jemand, der seinen Namen vergessen hat, an gar nicht so wenige Liedtexte; warum ist Gustavs Sprachverlust so minimal, dass ihm sogar Begriffe wie „Interpretation“ einfallen? Dass Gustav sich erst nach seiner neuen Menschwerdung mit und durch Maria an sein Verbrechen – einen Mord – erinnern kann, überzeugt wiederum sehr wohl.
vier schuss – von denen bis zum Ende der Erzählung nur zwei übrig bleiben – lässt mehrere Lesarten zu. Es ist eine Geschichte um Gefangenschaft und Flucht, sichere Unfreiheit und unsichere Freiheit, Leben in der Illegalität und letzten Endes eine fast gelungene Resozialisierung. Dieser Aspekt des Textes muss – implizit – im Kontext unserer heutigen Flucht-, Asyl- und Migrationsproblematik gelesen werden, zumal Schmitzer bereits in seinem Erstling, dem 2007 erschienenen Gedichtband „moonlight on clichy“ ein klares politisches Anliegen zeigte. Dabei ist die Einbettung in eine unbestimmte Zeit zweifellos ein sehr gut gewählter Kunstgriff. Damit bewegt sich das Erzählte irgendwo zwischen Science-Fiction und nüchternem Realismus.
Zum anderen wäre vier schuss eine geradezu elementare Allegorie auf den ewigen Kreislauf des Lebens durch das Zusammenfinden (irgend)eines Mannes und (irgend)einer Frau, würde sie nicht gleichzeitig an die Brüchigkeit jeder Vereinigung erinnern. Gustavs und Marias Zusammenleben, das viel zu schnell zur Routine wird, ist so wahr wie tragisch: gerade wäre man versucht, angelehnt an die immer wiederkehrenden Popzitate, zustimmend „Love is the answer“ zu sagen, doch kommt es anders und Gustav steht am Ende erst recht alleine da. Eine Geschiche, die einen länger beschäftigen wird, als man vorerst glaubt.