vienna:views vereint international bekannte Autoren wie Jonathan Carroll und Hobby-Schreiber in einem Buch, und auch die Texttypen sind so vielfältig wie ihre Verfasser: Erfahrungsberichte und Briefe, Kurzprosa und Lyrik wechseln einander ab. Bei der Lektüre wird etwas deutlich, das vom Durchschnittsösterreicher leicht übersehen werden kann: Wien ist nicht bloß eine Hauptstadt, sondern ein vielschichtiges, pulsierendes Konglomerat an Differenzen: „Vienna is the sound of the Föhn as it whistles disgruntled through the newsagent’s voice, in your aching head. Oh Vienna blame it on the wind. Vienna is easy. Vienna takes its time. Vienna is city and village at once. Vienna is the face of a granty old woman who has already forgotten why she is angry. Vienna is a joke I don’t understand. Vienna is a joke but I still don’t understand.“ (S. 127, „It must be here somewhere“, Labyrinth).
Die Texte zeigen, dass man in Wien, je nachdem, wem man begegnet, Gastfreundschaft genauso wie Fremdenfeindlichkeit antreffen kann, und beweisen weiters, dass es oft der erste Eindruck ist, der das eigene Bild einer Stadt für den Rest des Lebens prägt. Dem Außenseiter kann es hier genauso passieren, dass er angespuckt wird („A few days later, it dawned on me. The incident had been my unofficial initiation into Viennese life, a sort of secular baptism. […] this was all a carefully orchestrated attempt to reach out to me and say, hey, now you’re one of us.“, S. 120, „Spitting Distance“, Vanessa Keitel), wie dass ihm ein Fremder in einem „Beisl“ spontan einen Kuss auf die Wange drückt. Auch Wiens Geschichte taucht immer wieder auf; manch ein „alter Österreicher“ mag bei der Lektüre beschämt feststellen, dass ihm der eine oder andere Immigrant in vielen Details aus der Vergangenheit seiner Heimat voraus ist.
Die Kombination aus eigener Persönlichkeit und ersten Begegnungen scheint schließlich zu bestimmen, was zum jeweils ganz persönlichen Symbol für die Stadt wird – das Vanillekiperl oder die Donau, die Stempelmarkenbürokratie oder der „Anti-Americanism“. Nach der Lektüre bleibt Wien, auf einer Seite „city of loneliness“ genannt, auf der nächsten für seine Gemütlichkeit gelobt, vor allem eines: Vielschichtiger, als es der Leser, der in der Regel selbst nur ein kleines Stück des großen Wien bewusst er- und gelebt hat, für möglich gehalten hätte. Die Innenperspektive der Außenstehenden macht klar, was Dardis McNamee in „A Morning at the Market“ ausdrückt: „So I doubt I will ever use up Vienna. There are simply too many layers to turn back, too many faces that may suddenly turn toward me by chance, which may lead to a dozen new encounters I could hardly have imagined.“ (S. 120)
Ein Plädoyer für die Vielfalt, das neue Perspektiven auf eine alten Stadt aufzeigt, eine Gesellschaftsstudie unzensierter Ehrlichkeit und nicht zuletzt ein unterhaltsames Buch voller kurioser Begebenheiten, das jedes persönliche Wienbild um bisher unbemerkte Facetten zu bereichern weiß.