#Roman
#Debüt

Vienna

Eva Menasse

// Rezension von Antonella Cerullo

Eva Menasse konstruiert einen Roman aus einer Unmenge von Familiengeschichten und Familienanekdoten, die sie meisterhaft wie ein Puzzle zusammenstellt. Der Roman fängt mit der Geburt des Vaters der Autorin an und erzählt chronologisch seine und seines Bruders Lebenserfahrungen vom Krieg bis zur Gegenwart. Vienna ist ein Roman über eine Wiener Familie mit jüdischen Wurzeln und wirkt wie eine Sammlung von Familiengeschichten, die aus der Erinnerung der Erzählerin zu stammen scheinen.

Bemerkenswert ist die Fähigkeit der Autorin, sich in diesem unfangreichen Repertoire an Geschichten und Anekdoten zu bewegen, oft weicht sie von der Handlung ab und fügt kleine Geschichten hinzu, ohne den Faden zu verlieren. Sie unterbricht und setzt Familiengeschichten fort, lässt Figuren immer wieder in verschieden Zusammenhängen auftauchen, portraitiert neue Familienmitglieder. Es gelingt ihr dadurch, dem Roman den Charakter einer mündlich überlieferte Familiengeschichte zu verleihen.

Das Überliefern der Vergangenheit durch Familienanekdoten und Familiengeschichten ist für diesen Roman nicht nur stilistisch, sondern auch inhaltlich zentral, denn hier scheint es nicht so sehr um die Biographie der Väter, sondern eher um die Nachkriegsgeneration zu gehen, die ihre Familienidentität in der Vergangenheit sucht und diese durch das Erzählen bzw. das am Leben halten der „Familienmythen“ findet.
„Ich weiß es nicht“, sagte mein Bruder, „Vetter Eins meint, wir werden immer weniger Familie, je mehr wir versuchen, sie aus Geschichten und Anekdoten zu konstruieren.“
Nach dem Tod der Väter ist es die Erinnerung und das Wiedererzählen der Familiengeschichten, also die Vergangenheit, die die Cousinen und Cousins verbindet und zum Familientreffen anregt:
„Es ging um Politik und um Österreich, um Israel und um internationalen Fußball, und ich wartete geduldig auf die Überleitung zu dem, was für mich von Kindesbeinen an die Hauptsache dieser Familienabende gewesen war, auf „Em-Em“, wie die Frau meines älteren Vetters diesen unvermeidlichen Programmpunkt schon vor vielen Jahren getauft hatte, „manisches Mythologisieren“. Wenn das begann, wenn die alten Familiengeschichten zum tausendsten Mal heraufbeschworen, durchgekaut und neu interpretiert wurden, flüchteten sich die angeheirateten Frauen theatralisch eine Weile lang in die Küche, […]“.

Das Familiengefühl manifestiert sich also in Form einer Sucht, wie im Roman definiert wird im „manischen Mythologisieren“, ein Prozess, der die Vergangenheit am Leben hält, aber gleichzeitig auch die Konflikte der Nachkrieggeneration mit der Vergangenheit wieder belebt, und so übertragen sich die Konflikte der Kinder mit den eigenen Vätern auf die Gegenwart, also auf die Cousins, nd diese Vergangenheit, die sosehr bindet, führt paradoxerweise zum Zerfall der Familie.
Dabei geht es nicht nur um den Zerfall einer Familie durch einen Konflikt, sondern um die Unfähigkeit der Nachkriegsgeneration, sich mit der Vergangenheit zu versöhnen . Die Erzählerin selbst kommentiert den Familienstreit so:
„Und so ging alles zu Ende. Es war schmerzlich für die, die dabei waren, unbegreiflich für alle anderen. Ein Familienstreit, nichts weiter, und die dieser ersten Nachkriegsgeneration offenbar immanente Unfähigkeit, Konflikte zu überwinden.“

Eva Menasse zeigt am Beispiel einer Familie die Auseinandersetzung einer Generation mit der Vergangenheit und ihrer Wiener-Jüdischen Identität, dadurch zeigt sie auch Wien selbst, das für die Beteiligten ein Bestandteil dieses Prozesses der Konfrontation sein muss, denn was man hier erlebt, ist nur hier möglich. „Vienna“ ist also auch ein Wien-Roman und Eva Menasse führt ihre Leser durch ein halbes Jahrhundert Wiener Geschichte und zeigt Räume sowie Aspekte des Soziallebens und des Denkens, die stark den Charakter der Stadt vermitteln. Nicht zuletzt greift die Autorin die Thematik des in der Gesellschaft verankerten Antisemitismus auf, der sich im Verhalten und in der Sprache zeigt.

Vienna ist ein sehr komplexer Roman, der ein umfangreiches Bild einer Familie, einer Stadt und einer Epoche schildert, die Autorin hält eine gute Balance zwischen Spannung und Humor und auch wenn die Erzählung manchmal etwas statisch und langwierig wirkt, bleibt sie doch amüsant und unterhaltsam.
Etwas mühsam aber ist die ständige Konfrontation mit der echten Familie Menasse, denn Eva Menasse schafft eine Romanwelt, die viele Ähnlichkeiten mit der Realität präsentiert. Die Autorin verändert die Wirklichkeit gerade nur ein bisschen, damit sie zur Fiktion wird, und dieses Wechselspiel zwischen Wahrheit und Erfindung verwirrt und irritiert.

Eva Menasse Vienna
Roman.
Köln: Kipenheuer & Witsch, 2005.
432 S.; geb.
ISBN 3-462-03465-0.

Rezension vom 03.10.2005

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.