#Roman

Vertrocknete Vögel

Sophie Reyer

// Rezension von Roland Steiner

Es geschieht selten, dass sich so unterschiedlich positionierte Literaturzeitschriften wie die Grazer „manuskripte“, „perspektive“ und „Lichtungen“ sowie die Wiener „kolik“ auf eine junge Autorin einigen können, seltener noch, dass zwei Prosadebüts gleichzeitig verlegt werden: Die 24-jährige Sophie Reyer überzeugte nach ihrem Lyrikdebüt (2005) gleichermaßen den auf Sprachexperimente abonnierten Ritter Verlag und den Leykam Verlag, der seit einigen Jahren wieder literarische Wagnisse eingeht.

Der Roman Vertrocknete Vögel ist eher als dramatische Prosa anzusehen, die sich über vier Textflächen spannt. Im ersten Teil des Buches wird jene Familie eingeführt, der man in veränderten Konstellationen und Lebensstadien auch in den anderen Episoden begegnet: ein junges Mädchen, ihr jüngerer Bruder, die alkoholkranke Mutter und ein ambivalenter Vater. Als Klammer zwischen dem ersten und letzten Kapitel fungiert eine filmisch anmutende Autounfallszene. Die Autorin erzählt das Erwachsenwerden ihrer namenlosen Protagonistin(nen) abwechselnd in der dritten und zweiten Person, parallelisiert und überschneidet deren Schicksale und behält dabei – trotz all der Figurenfragmente und Syntaxexperimente – den roten Faden. Es ist das Wechselspiel zwischen dem weiblichen Körper und dem zugewiesenen sozialen Geschlecht, das Reyer anhand der Frau(en) darlegt – ihre Rollen als Tochter, als sexuelles Subjekt und fremdbestimmtes Objekt sowie als Mutter.

Eine junge Tochter hegt zärtliche Gefühle für ihren Bruder und eine zwiespältige Zuneigung zu ihren Elternteilen, aber das erfüllende Maß an Geborgenheit wird ihr nur selten zuteil. Die Präsenz des auswärts arbeitenden und zuhause passiven Vaters beruhigt ihre Ängste, wohingegen die dominante und fürsorglichere Mutter ihr körperliche Wärme gewährt. Doch der früh als problematisch empfundene , bald als Lust- wie Schlachtfeld missbrauchte Körper lässt die brüchige Stabilität kippen – und führt in den zweiten Erzählstrang.

Hier ist es eine junge magersüchtige Frau, die sich rührend um ein nach Vanille riechendes Kleinkind sorgt. Vanilleparfum atmet auch das Kinderzimmer der (möglicherweise) dritten Protagonistin, die einen Mann liebt, von dem sie ein Kind begehrt. Schroff weist dieser sie ab: „Lern, deine eigene Mutter zu sein.“ Nach drei Monaten verlässt er die Bulimiekranke, worauf sie zu ihrer Familie zurückkehrt. In ihrem Zimmer fehlt der Vogelkäfig ihrer Kindheit, der – auch als Bindeglied zwischen den Erzählsträngen dienende – Vogel sei innerlich vertrocknet. Eine Zeitlang diente er als geliebter Menschenersatz, an einer anderen Stelle wird ein Vogel von der Mutter zu Tode gefüttert und in den beinahe Trakl’schen Naturbetrachtungen changieren die Tiere zwischen ihren Rollen als Freiheits- und Unheilbringer. Einschneidender jedoch ist der gerade Elfjährigen das Erlebnis mit einem Mann an ihrer Schule. Dieser lädt die Pubertierende erst ins Kino ein, um sie danach zum Oralverkehr zu nötigen.

Inkongruente Bilder ihrer Mutter und ihres Vaters schießen der (möglicherweise anderen) jungen Frau während eines Geschlechtsverkehrs zu dritt in den Kopf. Eine gemeinsame Autofahrt, das Schälen einer Birne – einmal durch einen Liebhaber, einmal durch den Vater – und andere Szenen wiederholt Reyer in ähnlichen Situationen, sodass sich die Frage aufdrängt: Wird hier das Schicksal einer einzigen Frau erzählt?
Die jüngst mit zwei Literaturpreisen gewürdigte Autorin lässt den Interpretationsspielraum offen.

Im zweiten Buchteil sehen wir ein ängstliches Kind mit ihrer musikalischen Mutter spielen und ihre im Volksschulalter traumatisierende Menarche („Blutspeiberei“) erleben. Von den Gleichaltrigen verspottet und gemieden zieht sich das Mädchen immer mehr zurück, ritzt und zergrübelt ihren alabasterhäutigen Körper, ehe sie sich mit einer dünnen Mitschülerin anfreundet.
Sophie Reyer, die bei Clemens Gadenstätter in Graz Komposition studierte, entwickelt diese über Musik erfahrenen Liebesbande alternierend mit der Geschichte einer Frau, die befürchtet schwanger zu sein. Während der erste Erzählstrang beschleunigt gewoben wird, herrscht auf der auch stilistisch anderen Erzählebene Stillstand. Reyer gelingt es außerordentlich gut, den dramatischen Momenten in der Entwicklung ihrer jungen Protagonistinnen ruhige, auch positive Phasen beizuordnen. In der Gestalt einer Freundin keimt Hoffnung auf zweisames Glück, erste Party- und Konzerterlebnisse bringen ein wenig Unbeschwertheit. Nachdem die jüngere der beiden Frauen jedoch von Freundin und Freund verlassen wurde, nimmt sie sich angesichts der neuen männlichen Liebschaft eine Distanzhaltung vor: „es wird dir nicht wieder passieren dass dir wer im Herzgeflecht wühlt„. Doch abermals folgen sexuelle Devotion, Körperekel, Essblockaden und Schlaflosigkeit. Nach einer Therapie setzt sie trotz ihrer Selbstvorwürfe einen emanzipatorischen Akt und verlässt das elterliche Zuhause.

Reyers mit Lyrismen, Dissoziationen und Redundanzen arbeitende, hochexpressive Sprache unterstreicht die komplexen Zusammenhänge zwischen ihren malträtierten Protagonistinnen. Wie russische Matrjoschka-Puppen zerlegt und überstülpt die Autorin ihre Frauenfiguren, um das Kindsein im Erwachsenenkörper nicht nur individuell zu verdeutlichen. So verschiebt sie die Tochter- in die Mutterrolle, lässt erstere für ihren Bruder (oder Sohn?) sorgen und vereint beide in der Trauer um eine gestorbene Großmutter. In der Beschreibung von Körpersensationen macht sie vor Ausscheidungen und Autoaggressionen nicht halt, auch ihr Mut zum schmerzenden Blick auf die Missbrauchsproblematik ist bemerkenswert. Ihre Arbeitsweise macht ein Zitat deutlich: „du spielst mit sämtlichen Überstülpungen: Eltern- und Frauentektonik die sich über deine Herzbrut drüberlagert in Spiegelschichten„.

In Summe ergeben Sophie Reyers psychodramatische Bruchstücke eines der aufregendsten österreichischen Prosadebüts der letzten Jahre.

Sophie Reyer Vertrocknete Vögel
Roman.
Graz: Leykam, 2008.
136 S.; brosch.
ISBN 978-3-7011-7639-7.

Rezension vom 16.12.2008

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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