Dieser Verlust hat Rhea geprägt. Seit der Studienzeit kämpft sie dafür, ein Medikament zu finden und ist dadurch ständig mit Menschen konfrontiert, „deren Überlebenschance bei lediglich fünfzehn Prozent liegt“. Das wirkt sich auf ihr Denken und Fühlen aus. „Die Vergänglichkeit des Moments“ lässt Rhea keine Ruhe. Zu gern würde sie ihr privates Glück festhalten und konservieren. Als jemand, dessen Stärke es ist, „durch logisches Denken Verbindungen herzustellen, die schlüssige und nützliche Resultate“ hervorbringen, weiß sie aber, das das nicht geht. Deshalb will sie „nur vorsichtig hinfühlen“ zum Glück, ist doch zu befürchten, dass es, wenn sie hineinfasst, „platzen, springen, (…) ausrinnen, fortlaufen“ könnte, wer weiß wohin. So beschäftigt sie sich sicherheitshalber damit, Familie, Haus und Garten zusammen zu halten. Dabei ist sie übergenau in allem, was sie tut, als Mutter überragend, als Ehefrau liebevoll.
Dahinter verbirgt sich allerdings eine schwierige Psyche, die „massenhaft Kontrollmechanismen, Zwänge, Ängste, Verschiebungen, Blockaden, Komplexe, Sperren“ aufweist. Sie kann und will nicht loslassen, ihr Bedürfnis nach Nähe ist „geradezu penetrant“, was bei den Betroffenen Spuren hinterlässt. So braucht Tochter Sophia auch als Zwanzigjährige noch ihre am Rand des Polsters Wache haltende Puppe, um einschlafen zu können, während ihr Vater Jonathan auf diese „Klebrigkeit“ mit Ablehnung reagiert. Er kann Rheas „Pfirsich-Teint“ und „Nofrotete-Profil“ sowie all ihren anderen Vorzügen, die sie „immer richtig, immer hübsch“ erscheinen lassen, nichts mehr abgewinnen. „Satt von der Ehe, satt von dem Mangel, den sie völlig schuldlos in das System“ hineingebracht hat, würde er sich gerne der unsichtbaren Fesseln entledigen, die ihm jede Bewegungsmöglichkeit rauben.
Sein Ehebefreiungskampf, den Ulrike Kotzina sehr authentisch und mit großer Empathie inszeniert, nimmt durch die Liebe zu seiner Musik und Zeichnen unterrichtenden Kollegin Cleo richtig Fahrt auf. In ihr, die mehr als zehn Jahre jünger und „eine heillos intensive Frau“ mit spektakulären Augen ist, findet Jonathan „die Andersartigkeit (…), die Leidenschaft der Künstlerin“ und sich selbst schließlich gefangen in einer grauenhaften Pattsituation. Es kommt ihm utopisch vor, sich von Rhea zu trennen und mit Cleo zu leben, weil Rhea „zu allem Möglichen fähig“ wäre, würde er sie verlassen. Und doch will er „eine Pause von ihr, vom Alltag, vom Trott, eine Pause vom Schönen, ewig Gleichen“. Weg will auch Sophia, und zwar mit ihrem Freund Artur zum Studium nach London.
Diesem Spannungsfeld auseinanderstrebender Lebensplanungen begegnet die Autorin mit erzählerischer Souveränität. Wie sie die Gefühlswelten ihrer Figuren offen legt, ist großartig. Kotzina beschreibt auf sehr einfühlsame Weise, detailliert und genau, zeitweilig geradezu überschwänglich.
Die Dramatisierung des Geschehens ist schon an den sechs Kapitelüberschriften ablesbar. Der Roman beginnt als „Heitere Tage“ recht beschaulich inmitten gutbürgerlicher Verhältnisse. Doch die Pseudoidylle wird schnell entlarvt. Dementsprechend schlägt das Wetter um: Auf „Eintrübung“ folgt „Nebel“, „Erster Frost“, „Schneetreiben“ und letztlich „Eiszeit“.
Die sich immer mehr zuspitzende Wetterlage geht einher mit der prekärer werdenden Allgemeinsituation. Überall verschwinden Menschen: in der Nachbarschaft, in der Stadt, im ganzen Land. Es herrscht „höchste Alarmstufe“.
Ob diese nur als Hirngespinst im Kopf von Rhea existiert, in welcher der Verlust ihrer Eltern (…) schwere Störungen verursacht“ hat, oder wirklich Realität ist, kümmert Jonathan schlussendlich nicht mehr. Er will bloß zwischen beiden Frauen, zwischen denen er steht „wie zwischen zwei Wegen“, nicht untergehen, was angesichts der Schneemassen, die vom Himmel fallen, gar nicht so leicht scheint. Doch Jonathan bringt sich per Brecheisen auf den richtigen Weg. Leider wird dabei Rheas Kleid „in Stücke gerissen“, was diese „schwierige, labile, verkorkste Frau mit Trennungsangst“ jedoch regelrecht provoziert.
Ungeachtet aller schicksalhaften Tragik und psychischen Irrfahrerei bleibt eines klar: Man darf „ans Verschwinden keine Ansprüche stellen, (…) das Suspekte und Diffuse nicht herausfordern, (…) das Schamlose, Dunkle nicht reizen. Denn wer verschwindet, ist weg und erscheint nie wieder“.
Nichts mehr und nichts weniger vermittelt Ulrike Kotzina in ihrem kammerspielartigen Roman auf eindrucksvolle Weise.