#Roman

Verschüttete Milch

Barbara Frischmuth

// Rezension von Daniela Bartens

Man sollte das alles in den Griff bekommen, schreiben – the world in a nutshell –, den Gesichtern Namen geben, andere, eigene, sie etwas tun lassen, die auf der Terrasse mit denen außerhalb der Terrasse in Beziehung bringen, sich der Irritationen annehmen, selbst die Landschaft nicht verschonen, sich der Zeit bemächtigen, mit ihr umspringen, ihre verschiedenen Schichten wie Zeichnungen aufeinanderlegen und die Abweichungen zur Sprache bringen, sie mit Worten fassen, fassen, angreifen, laut werden lassen, sich der entstehenden Spannungen bedienen wie eines Aggregats, die Funken, den Funken springen, es nicht auf sich beruhen lassen,

schreibt Barbara Frischmuth 1974 in einem kurzen poetologischen Text mit dem Titel „Der Ort und die Zeit“ über ihre Kindheits- und später wiedergefundene Heimat Altaussee und die Möglichkeiten eines adäquaten Zur-Sprache-Bringens der persönlichen Geschichte und privaten Gschichteln wie der kollektiven Vergangenheit samt Mystifikationen aller Art in jenem eminent literaturaffinen Bio- und Soziotop zwischen Felswänden, Gletscher und See, das als k.k. Sommerfrische bereits vor der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert insbesondere unter jüdischen Künstlern und Intellektuellen beliebt war, in der NS-Zeit „arisiert“ und als „Alpenfestung“ kurz vor Kriegsende ein letztes Refugium für Nazibonzen und deren Familien wurde, dessen unüberschaubare Bergwelt zugleich Widerstandskämpfern, Wehrdienstverweigerern und Deserteuren als Versteck diente und das unmittelbar nach dem Krieg wieder von jüdischen Remigranten und Touristen aus aller Herren Länder frequentiert wurde, als ob es nie eine Zäsur gegeben hätte. Doch die Autorin vermeidet in ihren Texten allzu explizite Deutungen: „[D]ie Verhältnisse erkennen lassen, das Mit-, In- und Gegeneinander für sich sprechen – es zu Sprache werden lassen“, so noch einmal die frühe Poetik von 1974. Fazit zum Thema „Altaussee“ damals: „Kein Ort, eine Krankheit, chronisch wie der Regen.“

Die „Krankheit Aussee“ jedenfalls hat Barbara Frischmuth ihr Leben lang nicht losgelassen. In zahlreichen Werken und in unterschiedlichen Formen hat sie sich autobiographisch-erinnernd, erzählerisch-erfindend, essayistisch oder in Kinderliteratur dem Ort und dessen unterschiedlichen Zeiten angenähert – von der mythischen Sagen- und Märchenwelt der Fee Amaryllis Sternwieser und ihres Galans, des Alpenkönigs Alpinox, oder des am Grund des Sees lebenden Herrn von Wasserthal, die in „Die Mystifikationen der Sophie Silber“ (1976) als magisch-vorbewusste Ausweitungen in das Leben der Protagonistin eingreifen, bis zur tragisch endenden Liebesgeschichte Lilofees zu einem ukrainischen Zwangsarbeiter in der Nazi-Zeit in „Woher wir kommen“ (2012), die aus der Perspektive der beiden nachfolgenden Frauengenerationen rekonstruiert wird – eine Geschichte von Denunziation, Deportation und patriarchaler Gewalt und des Sprechens darüber.

Aber auch eine Zusammenstellung von literarischen Momentaufnahmen und Fragmenten aus der eigenen Altausseer Kindheit im Kapitel „Jahre“ der frühen autobiografischen Textsammlung „Tage und Jahre. Sätze zur Situation“ von 1971 findet sich darunter, die gemäß der Intention „Sich gegen die Kontinuität wehren, die Lücken absichtlich nicht füllen mögen“ („Der Ort und die Zeit“) in Art eines Fotoalbums Kurztexte aneinanderreiht, die vielfach für den nun vorliegenden Roman zum Steinbruch der autobiografischen Erinnerung werden. „Sich gegen die Kontinuität wehren, die Lücken absichtlich nicht füllen mögen und dem gleichzeitigen Wissen-wollen doch nicht standhalten können“, hatte das vollständige Zitat damals gelautet. Die Lücken im Lebens-Material durch Faktenrecherche und Fiktion doch versuchsweise zu Lebensgeschichten zu formen, unternimmt Barbara Frischmuth in ihrem neuen Buch, 48 Jahre später, diesmal allerdings nicht in autobiographischer Ich-Form, sondern von vornherein als Fiktion ausgewiesen.

In ihrem jüngsten Aussee-Roman Verschüttete Milch hat sie die Frage des Geworden-Seins als unabdingbare Voraussetzung des Seins – vom Herkommen aus den Mutterbäuchen bis zur Welthistorie – anhand der eigenen Sozialisation aufgeworfen. Die Unzuverlässigkeit eines Erzählens entlang von Erinnerungen und Erinnerungsmaterialien, die notwendige Fiktionalität bei noch so akribischer Recherche, die Zufälligkeit, Lückenhaftigkeit und Fehleranfälligkeit, wird dabei – insbesondere im ersten Abschnitt des Buchs, das in seiner Verdichtung ein Kabinettstück erinnernder Erzählliteratur darstellt – zugleich vorgeführt, thematisiert und in einer eigenen Poetik des Zur-Sprache-Kommens überwunden.

Denn die eigene Erinnerung spricht im Text nicht von Anfang an. Ganz zu Beginn „sprechen“ nur die Bilder. Familienfotos, in „drei größeren und … fünf kleineren Kartons“ willkürlich zusammengeworfen, ungeordnet und „meist mit dem Gesicht nach unten“ (9). Und auch die Zeit ist aufgehoben. Sprachlose Gegenwart. „Ich! Ich und die Sonnenbrille, sagte das Foto“ (11), das Juliane, die autofiktionale Protagonistin des Romans, als ihre vermeintlich früheste Erinnerung an die Altausseer Kindheit und Jugend im Gebirgsdorf mit dem berühmten See aus der Schachtel zieht. Da ist sie schon längst erwachsen und „die Kleine“, höchstens Zweijährige, am Foto mit der zu großen Sonnenbrille auf der Nase eine andere, der sich Juliane in der Rückschau auf die eigene Kindheit erst wieder annähern muss, und das heißt auch, hineinzugreifen in die Erinnerungskiste, ins unsortiert Geschichtete, und es „schichtweise“ (9) abzutragen, die Fotos umzudrehen, aber auch die Bilder im eigenen Kopf, und sie in eine mögliche Ordnung zu bringen.

Nach und nach kommen in der Textpassage wie im frühkindlichen Spracherwerb auch die Zeit- oder Tunwörter ins Spiel: „Ich sitze und schaue, sagte das Foto, und halte die Sonnenbrille fest.“ (12) Von nun an lassen sich Geschichten erzählen, die freilich immer subjektiv perspektiviert sind. Gleich einem Zauberspiegel scheint die Brille die Welt des Kindes einzufärben, lässt die Außenwelt von 1943 wie „durch den Kakao gezogen“ (12) erscheinen: „[s]onnenbraun“ (11) und zugleich nazi-braun. Und wie die Sätze länger und komplexer werden, schwellen auch die punktuellen Erinnerungsbilder zu kleinen Erzählungen an, sprechen nicht mehr die „Momentaufnahmen“ (132) am Foto, die Erinnerungen scheinen vielmehr durch die Brille der erlebenden „Kleinen“ selbst zu sprechen: „Ich liege in der Sonne und schaue über die Hecke hinauf zum Loch in der Felswand, das viel schwärzer ist als sonst. Warum?“ (12f.)

Vorgeführt wird ein Prozess des sukzessiven Zur-Sprache-Kommens in beiden Wortbedeutungen als Prozess einer Aneignung der eigenen Geschichte, der durch die Fähigkeit, Fragen und insbesondere Fragen nach dem Grund zu stellen, in Gang gesetzt wird und einmal stärker auf die Erzählerin fokussiert ist, dann wieder nahe an die kindliche Perspektive der „Kleinen“ heranzoomt. Das trotzig aufgeworfene, aus dem Erzählkontext isolierte „Warum?“ lässt sich sowohl entwicklungspsychologisch als frühkindlicher Versuch des Be-Greifens von (naturwissenschaftlichen) Kausalzusammenhängen verstehen als auch als lebensgeschichtliche Ursachenforschung der erwachsenen, zurückblickenden Erzählerin. „Ich“ – wie in der zitierten Textstelle – kann jedenfalls von da an im Text nicht mehr unvermittelt gesagt werden. Denn wie die Erinnerung unsicher ist, unklar, was wir selbst erinnern, was uns von anderen erzählt wurde, was wir falsch erinnern oder gar nicht, so ist auch das Ich instabil, eine Konfabulation. Das präsentische Ich der Foto-Erzählung weicht im Text zunehmend der doppelten Vermitteltheit einer Kindheitserzählung im Präteritum in dritter Person, die zwischen erinnerndem und erinnertem Sie unterscheidet und so die Erinnerung selbst und mit ihr die personale Identität zum Thema macht – freilich mit dem Ziel, durch das Erinnern eine Art Lebenserzählung herbeizuschreiben, die die einzelnen Erfahrungen in ihrem Wandel – denn „alles fließt, und nichts bleibt, wie es ist“ (7), wie es gleich eingangs heißt – vor dem Hintergrund wiederkehrender Muster, also in ihrem Zusammenspiel von Einmaligkeit und Wiederholung, sichtbar macht.

Das schwarze „Loch“ des Vergessens und der bewusstlosen Sprachlosigkeit füllt sich dabei nach und nach mit Erinnerungen, Vorstellungen, Träumen, deren Erzählen zum Ausweg, zum „Loch in der Felswand“, das nach draußen führt, wird. Und wozu Juliane – starren Systematisierungen aller Art eher abhold – sich „trotz guter Vorsätze“ nie „aufraffen“ konnte, nämlich die Kindheitsfotos „in Alben zu kleben“ oder sie wenigstens „chronologisch zu ordnen“ (9), das gelingt Barbara Frischmuth mit den weitaus flexibleren, eindimensionale Ordnungen unterlaufenden Mitteln ihrer Literatur problemlos: eine Kindheitsgeschichte der ersten vierzehn Lebensjahre zu erzählen, noch dazu eine, die das eigene Leben zum Material des Schreibens macht und den Herkunftsort Altaussee, jenen Kindheitsort, „an dem Heil und Unheil Tisch an Tisch zur Sommerfrische saßen“ (8), zum Protagonisten.

In drei ca. gleich langen Kapiteln von den frühesten Erinnerungen bis zum Schuleintritt und der damit verbundenen Zäsur des Lesen- und Schreiben-Lernens, über die Volksschulzeit bis zur vierjährigen Gymnasialunterstufe außerhalb Altaussees, im Gmundner Internat, und schließlich der Entscheidung, nicht wieder dorthin zurückzukehren, wird schon anhand der Kapitelüberschriften – „Die Kleine“, „Juli“, „Juliane“ – ein Prozess des Heranwachsens und Großwerdens von der unpersönlichen Anrede über die verkleinernde Koseform bis zur Entwicklung einer durch den vollen Namen repräsentierten Identität suggeriert. Langsam nähern sich erinnerndes und erinnertes Ich einander an, wird die „Kleine“ immer mehr zu „Juliane“. Der Roman macht diese Annäherung nachvollziehbar, indem mehr und mehr das personale Erzählen aus der Perspektive der heranwachsenden Juliane dominiert, die im ersten Kapitel dominierende Zweipoligkeit des Erzählens also in den Hintergrund tritt zugunsten einer stärkeren Illusionierung der dargestellten Erzählwelt.

Aus dem Blickwinkel des Kindes, das – die Eckdaten sind aus der Biografie Barbara Frischmuths bekannt – im elterlichen Parkhotel als typisches Hotelkind in der Kriegs- und Nachkriegszeit zwischen wechselndem Personal, Kinderfrauen, Hotelgästen und Tieren heranwächst, lässt sich die Erwachsenenwelt mit ihren Routinen und Geheimnissen jenseits von schnellen Deutungen verfremdet darstellen. Und indem die individuelle Geschichte aus der Innenperspektive rekonstruiert wird, werden zugleich Muster einer ländlich-kindlichen Sozialisation in der damaligen Zeit erkennbar: Da ist der frühe Kriegstod des Vaters, 1943, die mit der Führung des Hotels alleingelassene Mutter, das im steten Wechsel der Kinderfrauen häufig sich selbst überlassene Kind, das sich in der Haushälterin Anna und deren fußinvalidem, stets gutmütig-fluchendem Ehemann, dem Gärtner und Fuhrknecht Xaver, aber auch in der ländlichen Tierwelt eine wie ein sicherer Hafen wirkende Ersatzfamilie sucht. Vieles wird von den Erwachsenen in jener Zeit nicht angesprochen oder bewusst verschwiegen: Tierische Gefährten sind plötzlich verschwunden und finden sich im eigenen Magen wieder, weil man sie ahnungslos aufgegessen hat, der Onkel wird plötzlich zum neuen „Paps“, und die Schmerzensschreie der Mutter bei der Geburt des Bruders werden als tödliche Gefahr wahrgenommen. Ebenso ahnungslos werden die anhand der wechselnden Gäste im Hotel wie im Ort, aber auch in der eigenen Familie sichtbar werdenden politischen Konstellationen zur Kenntnis genommen. Der Tod von zwei Pferden, die von im Hotel einquartierten Mitgliedern der faschistischen ungarischen Exilregierung aus Nahrungsmangel erschossen wurden, verursacht ein größeres Trauma als das sukzessive Verschwinden von Menschen, als die Kriegstoten in der eigenen Familie. Die als Widerstandskämpferin aktive Tante Hanna erscheint als Retterin in der Not, nicht weil sie ihr Leben im Widerstand riskiert, sondern weil sie nach dem Krieg in der amerikanischen Besatzungszone frei einkaufen darf. Und manches erfährt Juliane überhaupt erst Jahre später aus den Dokumenten. Etwa, dass SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann mit einem aus dem Hotel gestohlenen Anzug ihres verstorbenen Vaters von Altaussee aus in die Berge geflohen sei.

Die Mutter hatte in dem Interview sogar Namen genannt, aber hinzugefügt, es gebe keine vor Gericht geltenden Beweise. Sie selbst habe den Raum, dessen Schloss aufgebrochen worden war, erst wieder betreten, als sie alle fort waren, in einer Almhütte festgenommen, über die Berge geflohen, die eigene Familie nicht vergiftet habend, wie vorgenommen, jedoch in voller Montur von den Amerikanern arretiert, in Nürnberg zum Tod durch den Strang verurteilt oder sich im Steireranzug ihres Mannes unkenntlich wähnend und erst viele Jahre später in Israel hingerichtet.
Übrigens hatte sich die Nichtvergiftung der Familie die Tante Hanna zugutegehalten. Sie habe als damalige Nachbarin mit der Frau des Gauleiters lange gesprochen, wie sie dem jungen Historiker im Interview erklärte, denn es habe ihr leid um die Kinder getan, die schließlich nichts dafür konnten. (135f.)

Bei dem erwähnten Interview der Mutter, von dem die Protagonistin behauptet, dass sie davon erst aus den Medien erfahren habe, bezieht sich Barbara Frischmuth auf Simon Wiesenthals Gesprächswiedergabe in „Doch die Mörder leben“ in der Wochenzeitung „Der Spiegel“ vom 21.8.1967 und transformiert lediglich den dort erwähnten „Zivilanzug“ den literarischen Intentionen gemäß in einen „Steireranzug“ (134). Und auch das Interview mit der Tante folgt einer historischen Quelle (vgl. das Kapitel „Die Aussagen der Widerstandskämpferin Edith Hauer-Frischmuth“ in der Dissertation von Helmut Kalss: Widerstand im Salzkammergut. Neue Aspekte. Graz 2013, S. 312). Von all dem hatte die Kinder-Juliane nichts mitbekommen. Und auch, dass ein Sohn von Adolf Eichmann, ein „unscheinbares Bürschchen“ (164), mit ihr die Volksschulbank gedrückt hat, erfährt sie erst Jahre später.

Dass die subjektive Brille im Text eine so große Rolle spielt, verwundert nicht, wenn man sich die Diskrepanz zwischen den beiden Sichtweisen, der kindlichen mit ihren magischen Welterklärungsmustern einer von Wassergeistern und Blutbuchen belebten Natur und jener historischen, die sich auf Fotografien und Dokumente aller Art stützt und daraus Schlüsse zieht, vor Augen führt.

Es ist das Verdienst dieses Romans, dass am Ende beides sich zu einem großen Zeitporträt fügt, das zugleich das Porträt einer Kindheit in diesem engen geografischen und sozialen Kosmos zeichnet, der sich jedoch durch die Entwicklung der Protagonistin zum literarischen Raum weitet. Nachvollziehbar etwa in der leitmotivischen „Kellergeschichte“ (14) als jenem Sündenort, an den die Kleine nach jedem kindlichen Sündenfall strafweise geschickt wird und von wo im Text ein ganzes Netz von metaphorischen und alttestamentarisch-symbolischen (Schöpfungs-)Bezügen aufgespannt wird – von den „lehmverkrusteten Erdäpfeln“ (14) über die „Äpfel im Keller“ (144) bis zur „Schlange“ (ebd.) und der „toten Maus“ (ebd.), vom „korkelnden Wein“ (14) zur „Blutbuche“ (15) bis nach „Buchenwald“ (266), aber auch zur Schöpfungsgeschichte als Ausbruch „[a]us dem stummen Keller“ (14) des Unbewussten und der Sprachlosigkeit, indem ein existentielles „Nein“ all dem entgegengeschleuert wird:

Aber sie sagte: Nein! Ein Nein, das tief in ihr drin gehockt war und sich endlich aus dem Keller befreien hatte können… Sie sagte Nein und nein und nein! Einen ganzen Tag lang, bis sie dieses Wort auf die Welt gebracht hatte, anstatt zu weinen (14).

Es ist jenes „Nein“, mit dem die Protagonistin, das „widerständige Trotzkopferl“ (31), wie die „Omama“ im Text sagt, am Ende ihren eigenen Weg behaupten wird. Der Roman endet mit zwei Entscheidungen, die der 14-Jährigen schlussendlich die selbst-bewusste „Ich-Form“ und das Planen im Futur ermöglichen: „Die erste lautete: Nein, ich werde nicht in die Hotelfachschule gehen. Und die zweite: Nein, ich werde nicht mehr ins Internat zurückkehren.“ (286) Wodurch die spätere Schriftstellerinnenkarriere erst möglich wurde und sich ein Bogen zum Beginn des autofiktionalen Romans spannt. War dort auf den „selbst geweinten See von Tränen“ (10f.) aus „Alice im Wunderland“ Bezug genommen worden, so wird unter dem Signum des „Nein“ die Begegnung mit dem wundersamen China-Reisenden und jüdischen Remigranten „Dr. Bruno Abendrot“ für die Protagonistin zur literarischen Initiation:

In China? Juli war starr vor Bewunderung. Hatte sie sich doch nach ihrer ersten Lektüre von Tausendundeiner Nacht eine Art Phantasie-Ort ausgedacht, der noch dazu von hier aus erreichbar war. Zumindest im Traum. Nur musste man zuerst einen See durchschwimmen und am anderen Ende, wo zwei Bergmassive aneinandergeraten, eine Höhle durchtauchen, jenseits deren schellentragende Wächter standen, die bestimmten, ob man zu diesem geheimen Ort weiterschwimmen durfte oder nicht… Es war ein Ort, wie er, seit sie sich ihn ausgedacht hatte, immer öfter in ihren Träumen vorkam. Und sie konnte es kaum glauben, dass nun jemand, der offensichtlich von einem solchen Ort kam, bei ihrer Familie leben wollte. Irgendwann würde sie anfangen, diesen Dr. Abendrot auszufragen. Vorsichtig, nach Möglichkeit, ohne ihn zu nerven, ganz nebenbei. (261)

Vom Ende her ließe sich sagen, dass das kleine Mädchen des Beginns, das mit seinem eigenen Spiegelbild im Wasser spielen möchte, weil es die Andere nicht als Eigenes erkennt, und dabei in Lebensgefahr gerät, sich doch noch mit seinem Bild vereinigt hat und im Durchgang durch die Verflüssigung des literarischen Schreibens zu einer neuen Identität und einem Überleben im Text gefunden hat.

Barbara Frischmuth Verschüttete Milch
Roman.
Berlin: Aufbau, 2019.
286 S.; geb.
ISBN 978-3-351-03710-9.

Rezension vom 08.01.2020

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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