#Sachbuch

Verlorene Generation

Armin Strohmeyr

// Rezension von Evelyne Polt-Heinzl / Christine Schmidjell

Hatte die rebellische 68er Generation in ihrer Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit der Väter mit großer, mitunter auch undifferenzierter Geste alles weggefegt, was für sich die Zugehörigkeit zur „inneren Emigration“ beanspruchte, ist seit einigen Jahren ein starker Gegentrend zu beobachten. Nachdem man sich für politische Orientierungsmarken nicht mehr interessiert, wird das Zeitkontinuum definitionsgebend: Sie haben alle zur gleichen Zeit geschrieben und nur das Gesamt mache die Literatur zur Zeit der NS-Diktatur aus. Unter diesem chronometrischen Ansatz findet dann auch eine Autorin wie Erika Mitterer, die ihre publizistische Hochblüte im NS-Staat erlebte, bequem Platz in einem Lexikon zur Exilliteratur.

Armin Strohmeyr verzichtet auf Erika Mitterer, aber Ernst Wiechert, Otto Flake und Werner Bergengruen sind vertreten, und sie werden gemeinsam mit Mechtilde Lichnowsky aufgezählt, die als einzige von den Genannten tatsächlich nie eine Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer begehrt hat und in NS-Deutschland keineswegs freiwillig verblieb. Sie wurde bei einem Besuch im Deutschland vom Ausbruch des Krieges überrascht und die NS-Behörden verweigerten ihr in der Folge die Ausreise an ihren südfranzösischen Exilort, wo sie seit Jahren gelebt hatte.

Das Gemeinsame der dreißig porträtierten AutorInnen ist die Tatsache, dass der Hitlerfaschismus in ihrer aller Lebensperiode fiel, wenngleich er verschieden tiefe Brüche verursachte. Das ist der Kern, auf den der Titel der „Verlorenen Generation“ anspielt. Etwas weniger eindeutig wirkt der Untertitel „Dreißig vergessene Dichterinnen und Dichter des ‚anderen Deutschland'“. Abgesehen von den angedeuteten politischen Implikationen, umfasst das „andere Deutschland“ hier fast ein Drittel AutorInnen aus Österreich, das doch nur knapp sieben Jahre Ostmark sein musste. Vor allem aber sind beim Faktum des Vergessenseins die Ausmaße und auch die Gründe sehr unterschiedlich.
Theodor Kramer etwa kann man 2008 nicht mehr gut als vergessenen Autor titulieren, Ernst Weiß hat eine 16-bändige Werkausgabe bei Suhrkamp vorzuweisen, von Franz Blei, Vicki Baum oder Gina Kaus sind heute immerhin etliche Bücher erhältlich. Werner Bergengruen und Ernst Wichert sind immer präsent geblieben, auch wenn sich das Lesepublikum von ihnen zunehmend abgewandt hat. Das war im Übrigen der unbestreitbare Vorteil, den Autoren der so genannten „inneren Emigration“ hatten: Sie waren nach der Befreiung sogleich vor Ort; schien ihre Verquickung in die NS-Kulturpolitik nicht allzu kompromittierend, waren sie die ersten, die den Weg zu den neu gegründeten medialen Strukturen fanden und von ihren neuen Positionen aus auch aktiv dazu betrugen, dass AutorInnen des Exils lange kaum einen Zugang zu deutschsprachigen Verlagen oder gar Ehrungen fanden. Mascha Kaléko (sie kommt im Band nicht vor) wäre dafür ein gutes Beispiel gewesen, aber selbst prominente Autoren wie Alfred Polgar.

Eine ganz wesentliche und unrühmliche Rolle spielte dabei die „Gruppe 47“, das spricht Armin Strohmeyr mit dankenswerter Klarheit wiederholt an. „Kesten ist Jude, und wo kommen wir hin, wenn wir jetzt die Vergangenheit untereinander austragen, d. h., ich rechne Kesten nicht uns zugehörig, aber er empfindet es so.“ So zitiert Strohmeyr aus einem Brief Hans Werner Richters vom Jänner 1961. Woraus er zitiert, bleibt unklar, da der Band durchgängig auf Nachweise verzichtet. Das ist dem neuen Verständnis von populärem Sachbuch verpflichtet. Was man den kurzen Literaturhinweisen zu den einzelnen Autoren im Anhang entnehmen kann, ist, dass etwa für österreichische Autorinnen Strohmeyrs Hauptquelle der Band „Erfolg und Verfolgung. Österreichische Schriftstellerinnen 1918 – 1956“ ist, der 2002 im Residenz Verlag erschien und mittlerweile leider schon verramscht wurde, offenbar voreilig, denn das Interesse am Thema scheint keineswegs abgetan, wie der vorliegende 450 Seiten starke Sammelband belegt.

„Aus der Verbindung von Biografie und Werkanalyse“ (S. 9), so heißt es im Vorwort, ergaben sich inhaltliche Zuordnungen, die Strohmeyr in neun Themenkreise fasst: Cabaret und Groteske (Ferdinand Hardekopf, Emmy Ball-Hennings, Max Herrmann-Neiße), Der Biss der Satire (Franz Blei, Karl Jakob Hirsch), Lyrische jüdische Stimmen (Karl Wolfskehl, Paul Mühsam, Theodor Kramer, Hans Sahl), Beiderseits des Rheins (Annette Kolb, René Schickele, Otto Flake), Remarques Geschwister (Alexander Moritz Frey, Kurt Hiller, Walter Hasenclever, Adrienne Thomas); Der Glaube an den Sozialismus (Paul Zech, Leonhard Frank, Hermynia Zur Mühlen), Kritik im historischen Gewand (Ricarda Huch, Alma Johanna Koenig, Werner Bergengruen, Hermann Kesten), Die Barbarei am Pranger (Mechtilde Lichnowsky, Ernst Weiß, Ernst Wiechert, Hans Siemsen, Alfred Neumann), Schöne neue Welt (Vicki Baum, Gina Kaus).

Auch wenn sich diese Einteilung nicht unmittelbar erschließen mag, Armin Strohmeyr, der bereits Biografien zu Annette Kolb, Klaus Mann oder Leonhard Frank vorgelegt hat, bietet bei vielen der Porträtierten informative Lebensabrisse. Das Interesse an den Büchern der AutorInnen zu wecken, wie es als Intention im Vorwort formuliert wird, steht dabei eher nicht im Vordergrund. Wo auf Bücher eingegangen wird, geschieht das in knappen Inhaltsangaben, literarisch-ästhetische Fragen werden kaum berührt. Das ist bei dreißig AutorInnen primär wohl ein Problem des Umfangs, mitunter müsste aber auch der Literarhistoriker zugeben, dass es Bücher gibt, die für heutige Leser nicht zu retten sind und nur mehr ein wissenschaftliches Interesse beanspruchen können. Das gilt keineswegs nur für offen problematische Werke wie Bergengruens Roman „Der Großtyrann und das Gericht“, der 1935 eine diffuse Volksgemeinschaft beschwört. Und so ehrenvoll Wiecherts Einsatz für den inhaftierten Pfarrer Niemöller ist, seine „Majorin“ (1935) bleibt schwer lesbar.

Manchmal stolpert man in den Lebensabrissen auch über Formulierungen, die ein aufmerksameres Lektorat vielleicht ausbessern hätte können. Etwa wenn Otto Flakes zahlreiche Liebschaften mit der Formulierung, er war ein „Verehrer“ der Frauen (S. 163) umschrieben wird. „Sein dichterischer Furor hat ihn immer wieder so mitgerissen, dass er es nicht beim Übersetzen beließ“ (S. 228), heißt es über Paul Zech als Nachdichter Villons, und über Alma Johanna Koenig: „Sie verinnerlicht ihre Studien“ (S. 289), womit gemeint ist, dass sie alles im Gedächtnis behielt und später zu reproduzieren vermochte. Dass Alma Johanna Koenig in ihren Briefen in der Zeit der Verfolgung in Wien von „Wintersport“ spricht, wenn sie einen Arbeitseinsatz zum Schneeschaufeln absolvieren muss, ist im übrigen weniger ihrem „Humor“ und ihrer „Lakonie“ geschuldet, denn der Zensur. Über Vicki Baum ist zu lesen: „Das Mädchen Vicki erhält auf Bitten der Mutter Harfenunterricht und damit ein Ventil für ihr eingebundenes Gefühlsleben“ (S. 407), und: „Die ‚anspruchsvolleren‘ [Bücher Vicki Baums] stechen indes aus der Masse dessen hervor, was man gemeinhin als ‚Unterhaltungsliteratur‘ abqualifiziert.“ (S. 415) Manchmal geraten schiefe Formulierungen auch inhaltlich missverständlich, etwa wenn es von René Schickele heißt, er habe „im liberalen Klima der Weimarer Republik eine Reihe von Büchern“ produziert.
Das kann man alles als Beckmesserei abtun und es ist auch weniger an die Adresse Armin Strohmeyrs gesagt, denn an die des Konzepts vom „populären Sachbuch“: Gerade wo gebündelte Information auch an ein Nicht-Fachpublikum vermittelt werden soll, sind faktische wie sprachliche Klarheit und überzeugende Komposition unerlässlich.

Nur als Nachsatz, weil es für einen pietätvollen Umgang mit dem wirklich „verlorenen“, weil vom NS-Terror zu Tode gebrachten Teil der Generation nicht unbedeutend ist: Alma Johanna Koenigs Leben muss nicht länger spurlos in einem Lager enden, das Projekt „Namentliche Erfassung der österreichischen Holocaustopfer“ des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands verzeichnet zu Alma (Johanna) Ehrenfels (geb. Koenig) Tod: Maly Trostinec, 1. Juni 1942.

Armin Strohmeyr Verlorene Generation
Dreißig vergessene Dichterinnen und Dichter des „anderen Deutschland“.
Zürich: Artrium, 2008.
447 S.; geb.; m. Abb.
ISBN 978-3-85535-721-5.

Rezension vom 21.04.2008

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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