#Roman

Verlassener Garten

Stanislav Struhar

// Rezension von Helmuth Schönauer

Der Garten ist nicht so sehr ein Ort als vielmehr ein Zustand. Die Literatur ist durchzogen mit Gartenelementen, welche am Ende in einen Garten der Lüste oder in pure Gartenmusik münden können.
Stanislav Struhar baut den Garten zu einer Symphonie für die Sinnesorgane eines Heranwachsenden aus. Dabei bezieht sich die Bezeichnung „verlassen“ sowohl auf den Ort selbst, der leer geworden ist, als auch auf das Gefühl des Verlassenseins, das beim Durchstreifen eines Gartens entsteht.

Held ist ein vorerst siebenjähriger Bub, Joachim, der gerade eingeschult wird, und dessen Jahreslauf aus dem üblichen Erlebnis-Dreieck besteht: Geburtstag, Weihnachten, Ferien. Aber bei ihm kommt noch eine schicksalshafte Gliederung hinzu. Seine Lebensabschnitte beginnen pünktlich mit einem Begräbnis am Wiener Zentralfriedhof. Zu Beginn wird sein Bruder Richard zu Grabe getragen, am Beginn des zweiten Abschnitts ist es die Mutter, die mit der Fügung „sie kommt nie mehr wieder“ in die Erde gelassen wird. Im dritten Kapitel erwartet man als Leser wieder ein Begräbnis, aber eine Rauferei zwischen dem Helden und einem mobbenden Mitschüler endet gerade noch ohne Totschlag, dafür gibt es einen Friedhofsbesuch. Das vierte Kapitel schließlich endet mit Begräbnisvorbereitungen für die Großmutter, die mit dem Rollstuhl die Treppe hinuntergefallen ist.

Der Friedhof ist der endgültige der drei Gärten, die das Leben des Joachim ausmachen. In seinem Vorfeld liegen der Park von Schönbrunn und der angrenzende Hausgarten an der Außenhaut einer Villa.
Dieses edle, kunstvoll impressionistische Ambiente erweist sich als versöhnlicher Kontrapunkt zu einer brutalen Familiengeschichte. Die alkoholkranke Mutter tötet den neunjährigen Richard, den Bruder des Helden. Sie wird in eine psychiatrische Anstalt überstellt und stirbt. Joachim hingegen wird in einer Villa untzergebracht, in der eine seltsame Verwandtschaft aus- und eingeht. Gesichert ist wohl nur, dass der Großvater ein Verhältnis zur siebzehnjährigen Tante des Jungen hat, und dieser spitzt mit seinen kindlichen Gelüsten wie wild auf diese Nathalie.
Joachim teilt sein ganzes Leben ein in eine Zeit mit und ohne Natalie, er erfindet eine eigene Sprache für sie und weiß dennoch nie, dass es pure Erotik ist, was ihm da widerfährt. „Er will keinen Garten, sondern aktive Kindheit!“ (75) Nathalie ist zwischendurch besorgt, wer da als stilles Kind heranwächst. Tatsächlich zeichnet Joachim alles, was er für das Leben hält. Nach einem Spaziergang durch den Garten flieht er auf das Zimmer und zeichnet Baumkronen. Zwischendurch malt er Schriftzüge nach, die er nicht versteht. So prahlt er etwa mit einem grausigen einsilbigen Wort, das er abgemalt hat, aber dessen Inhalt ihm verborgen bleibt.
Geburtstage, Weihnachten und Ferien kommen und gehen, aber der Garten passt sich immer an die neuen Feiertage an und bleibt verlässlich schön. „Dieser Teil der Natur ist vielleicht der schönste!“ (187) An den Geschenken merkt man am ehesten, dass Joachim größer wird. Er bekommt den „Process“ von Franz Kafka geschenkt, ein andermal fallen ihm die „Blumen des Bösen“ in den Schoß.
Als er schon fast volljährig ist, öffnet er die Erinnerungsschachtel an die Mutter. „Kind von eigener Mutter aus dem Leben gerissen!“ (198) Nach dieser Schlagzeile weiß er genug und verschließt die Fotoschachtel wieder. Als Kind hat man ihm nämlich gesagt, dass Menschen auf Fotos weiterleben können. So wird Joachim scheinbar erwachsen, umgeben vom Garten, Musik und einer Staffelei.

Als Leser ist man betört von diesem Kunstwerk. Es wirkt Zeile für Zeile auf die lesende Seele ein, wie es Schritt für Schritt komponiert ist. Der Autor ist bekannt für sein sorgfältiges Austüfteln klarer Sätze, die wie gemalt klingen und in ihrer Kürze zu einem Signet werden können. Eine Fügung wie „schiefer Gesang“ beschreibt jenen Musikzustand, den man zuerst nur beiläufig wahrnimmt, ehe man dann doch zwischen den Tönen zu liegen kommt. Auch die melancholische Übersetzung evoziert sorgfältig diese „Nostalgie“ aus tschechischer Sprache und ist vertrauenerweckend. Man ist vielleicht an den Film „Letztes Jahr in Marienbad“ erinnert, wo unter einer Glocke suggestiver Musik zwei Liebende durch eine Barockanlage wandeln und sich in Trance ergehen.
Auch im Verlassenen Garten gibt es ständig Musik, je nach Zustand des Helden stimmt jemand eine Oper an, selten in der Literatur ist eine Kindheit so anspruchsvoll mit Gesang unterlegt worden.
Im Nachwort der Übersetzerin Kristina Kallert werden ein paar dieser möglichen Musik-Konnotationen angesprochen, auch sind ein paar Erzählkniffe herausgearbeitet wie etwa das Motiv der Mitte. Wenn etwas in der Mitte steht, wirkt die Umgebung am größten.
Stanislav Struhars Roman liegt genau in der Mitte des Erzählten, weshalb die dargestellte Welt groß wird. Das wird es bei jedem von uns Lesern sein, was uns anspricht: Die Kindheit ist ein verlassener Garten.

Stanislav Struhar Verlassener Garten
Roman.
A. d. Tschech. übersetzt und mit einem Nachwort von Kristina Kallert.
[Orig.: Opuštená zahrada, Prag 2004].
Klagenfurt: Wieser, 2020.
225 S.; geb.
ISBN 978-3-99029-381-2.

Rezension vom 23.06.2020

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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