#Roman
#Debüt

Verhalten

Thomas Raab

// Rezension von Karin Cerny

Menschliches Verhalten zu erforschen ist die Aufgabe jedes Romanautors. Thomas Raab, 1968 in Graz geboren, geht in seinem von der Kritik mit viel Aufmerksamkeit und großteils Lob bedachten Debütroman Verhalten einen Schritt weiter: Er beobachtet auf ironische Weise das psychologische Beobachten.

In einer Symbiose aus Literatur und Wissenschaft – das Buch beginnt mit einer Zeichnung wie aus dem Psychologielehrbuch – hat Raab ein reales Ereignis als Ausgangspunkt seines Experiments gewählt. Die Ehefrau eines bekannten Wiener Psychiaters springt, nachdem sie ihre beiden Kinder aus dem 4. Stock geworfen hat, selbt hinterher. Sie überlebt. Die Zeitungen schreiben darüber. Raab, der als Kognitionsforscher und Übersetzer in Wien liebt, nimmt ein klassisches literarisches Thema – das Familiendrama -, und behandelt es überraschend unsentimental und distanziert. Immer wenn man meint, jetzt durchschaue man das Buch, schlägt es einen neuen Haken, zieht es einen weiteren doppelten Boden ein, jongliert locker und souverän mit Zitaten und Querverweisen.

„An einem Tag im Herbst oder im Oktober gehen Menschen ihren Beschäftigungen nach. In einer Stadt am Tag im Herbst oder im Oktober gehen Menschen und sind beschäftigt. In einer Stadt am Tag im Herbst oder Oktober wird erzeugt, gefahren, gegangen, geschrieben, gegessen, gewaschen und diagnostiziert. Es ist ein Tag im Herbst oder im Oktober in einer Stadt, die genau jetzt Wien genannt wird“. Der erste Satz führt in eine Welt, die sich erst orientieren muß. Die Sätze lesn sich wie ein Näherungsprogramm, das sich gerade scharfstellt, wie von einem Sprachcomputer generiert. Es geht um Modelle: Erst vom Allgemeinen kommen wir nach und nach zum Besonderen. „Die Häuser sind allgemein, heißt: im Schnitt, in einem gepflegten Zustand. Es ist zum Beispiel nicht Krieg.“ Die nüchterne und umständlich Sprache des Romans persifliert auf sehr komische Art die etwas hölzerne Sprache der Psychologie und der Verhaltensforschung. Wir bekommen Informationen, die wir so genau eigentlich gar nicht wissen müssen: „Sein monatliches Einkommen beträgt 12.455 Schilling (netto, vierzehnmal im Jahr bei fünf Wochen Urlaub)“.

Erst langsam kommen Figuren ins Spiel, ein gewisser A, Psychiater, und eine gewisse O – ein Paar, das sich getrennt hat. A zeigt schriftstellerische Ambitionen, der Oberschwester (in ihrer Freizeit interessiert sie sich für „Literatur und theoretischen Sex“) fällt eines seiner Manuskripte in die Hände: „Die m.E. einzige Lösung dieses Beziehungsproblems […] ist die Maximierung der Freiheit als einzig mögliche Basis von Zweierbeziehungen.“ Wohl nicht zufällig hat fast jede der Figuren Urs Widmers gewitzte Romanparodie „Forschungsreise“ von 1974 gelesen. Thomas Raab liebt das Spiel mit Verweisen, seinen Roman will er auch als eine „Satire auf die Gattung Bürgerlicher Roman und inhaltlich auf die bürgerliche Familie samt dazugehörigem Alltagspsychologiegeschwafel“ verstanden wissen, wie er in einem Interview mit der Literaturzeitung „Volltext“ sagt. Ein klärendes Gespräch zwischen den Ehepartnern erstickt in Phrasen und wird mit Songtexten von Elvis („We’re caught in a trap“) bis zu Smog („Dress sexy at my funeral my good wife“) konterkariert. Plötzlich lesen wir einen Brief von O’s Vater, der ihre Entmündigung anstrebt. Das Buch lebt vom Prinzip Überraschung. Manchmal ufert diese Verspieltheit allerdings auch aus. Aber trotzdem gelingen Raab beide Ebenen – Figuren, die plastisch werden, und eine Struktur, die absurd und entlarvend ist.

Im zweiten Teil des Buches, dem „Hauptstück“, wechselt die Perspektive in die Innenperspektive O’s. Ein poetisierender Tonfall führt in eine hermetische Wahn- und Traumwelt („Ich ist Koyotin“). Vieles spricht dafür, daß diese Zeilen allerdings von ihrem Mann, dem schriftstellernden Psychiater A, stammen. Ein weiterer doppelter Boden, der notwendig ist, denn natürlich wäre die Textpassage altmodischer Psychiatrieliteraturkitsch, den man so nicht mehr lesen mag. Raabs Konstruktionsfreude rettet manches, verkompliziert aber auch einiges. Ein interessantes und eigenartiges Buch ist es geworden, das unter der Oberfläche Themen anpackt, die ihre literarische Hochblüte schon hatten: Weibliches und männliches Schreiben, Diskurskritik an der Sprache der Psychiatrie, das Zerbrechen der bürgerlichen Familie. Wie weit geht die Parodie, wo meint es Raab ernst? Das ist schwer zu sagen. Aber wie oft passiert schon, daß eine Neuerscheinung so schön Verwirrung schafft?

Thomas Raab Verhalten
Roman.
Köln: Tropen, 2002.
171 S.; geb.
ISBN 3-932170-54-7.

Rezension vom 16.12.2002

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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