#Roman

Vegetarianer

Felix Kucher

// Rezension von Spunk Seipel

Die Menschheit ist am Ende. Die Leute werden von Zivilisationskrankheiten heimgesucht. Aber die Ärzte heilen nicht, sondern vergiften die Leute mit ihren Medikamenten und Impfstoffen. Verursacht wird das vor allem durch die krankmachende Ernährung! Der Konsum von Fleisch und tierischen Produkten wie Milch oder Honig verursacht nicht nur körperliches Leiden, sondern auch psychische Schäden und führt zu Gewalt und Krieg.

Nein, es sind keine Textbausteine aus einem aktuellem Internetblog. Es ist, kurz zusammengefasst, die Weltsicht des Malers und Reformers Karl Wilhelm Diefenbach, der natürlich auch gegen den einengenden, sexuell aufgeladenen Kleidungsstil der Zeit wetterte, das Nacktsein als Ideal darstellte und für die „Freie Liebe“ kämpfte. Diefenbach lebte von 1851 bis 1913. Felix Kucher berichtet in seinem Buch Vegetarianer, wie sich Veganer damals selber nannten, über dessen wichtigste Jahre in und um München und gibt einen Einblick nicht nur in die Biographie des Künstlers, sondern auch in die Welt der Lebensreformer der damaligen Zeit. So begegnet man vielen noch heute bekannten Namen wie Bircher (der mit dem Müsli), Sebastian Kneipp, John Harvey Kellogg oder Emilie Flöge, der Lebenspartnerin von Gustav Klimt. Und natürlich dem Diefenbachjünger Fidus, der in seiner Kunst die Ideale der Lebensreform wie kaum ein anderer verherrlichte.

Diefenbachs Leben war geprägt vom Glauben an den Neuen Menschen und der harten Ablehnung der Gesellschaft. Er rieb sich für seine Ideen auf. Er machte sich zum Gespött in München, wo er auf Straßen und Plätzen in einer togagleichen Kutte barfuß mit wallendem Bart predigte und Anhänger suchte. Meist wurde er aber nur als Kohlrabiapostel ausgelacht und verspottet. Er hatte es schwer und gab doch nicht auf.

Auch als ihm in Pullach bei München ein ehemaliger Steinbruch samt Herrenhaus und Baracken zur Gründung einer Kommune zur Verfügung gestellt wurde, blieb ihm das Glück wankelmütig. Jeden Sommer versammelte sich eine kleine Schar von Jüngern um ihn, die nackt in der Sonne lagen und über die neuen Zeiten sprachen, aber sonst nichts für die Kommune oder die Entwicklung der „Neuen Menschen“ taten. In der kalten Jahreszeit zog es die Jünger zurück in die warmen Wohnungen in der Stadt. Zudem machte Diefenbach, dem Anhänger der freien Liebe, seine Ehefrau das Leben schwer. Es kam zu mehreren Prozessen vor Gericht um eine Scheidung und das Sorgerecht für die Kinder. Doch er konnte nicht von ihr lassen, so wie sie nicht von ihm.

Diefenbachs Leben, das auf den ersten Blick exotisch und aufregend wirkt, war in immer der gleichen Mühle von Streit, Anfeindungen, untreuen Jüngern und Schulden gefangen. Zudem lag der Gesundheitsapostel trotz der veganen Diät oft wochenlang krank im Bett darnieder.

Felix Kucher entzaubert in diesem Buch den Mythos dieser frühen Lebensreformer, zeigt die Brüche in ihren Ideologien und die Widersprüche in der Lebensführung auf. Den Jüngern Sex zu verbieten, aber sich selbst das Recht auf jede Frau herauszunehmen, kennt man von Sektenführern. Selbst im relativen Luxus zu leben und über die Jünger zu klagen, die in einer zugigen Baracke den Winter nicht ertragen wollen – auch so etwas ist bekannt.

Kucher hat ein Buch geschrieben, das eine vergessene Biographie wieder bekannt macht. Vor allem aber auch aufzeigt, wie schon vor fast 150 Jahren scheinbar neue Ideen für ein besseres Leben ausprobiert und propagiert wurden. Wie die Vertreter der damaligen Lebensreform aneckten und daran scheiterten, Gleichgesinnte zu finden, oder sich mit anderen Lebensreformern wegen Details in Grabenkämpfen verzettelten.

Es ist nicht das erste Buch, das sich mit dieser Generation der Lebensreformer befasst. Aber Kucher gelingt es, nicht zuletzt durch das konsequente Einflechten von damals gebräuchlichen, heute vergessenen Wörtern und die akribische Recherche über den Maler Diefenbach, ein lehrreiches Zeitbild zu entwerfen. Ohne moralisch zu urteilen, fängt man als Leser doch stetig an, Parallelen zum Jetzt zu ziehen. Man fragt sich, warum die vegane Bewegung so wenig Geschichtsbewusstsein hat. Liegt das daran, dass ein Mann wie Diefenbach, so wie er in diesem Buch geschildert wird, nicht als Vorbild taugt? Oder daran, dass die Lebensreformbewegung schnell ins Völkische abglitt. Das wäre auch einer der wenigen Kritikpunkte, die man dem Autor Felix Kucher vorwerfen müsste, nämlich die mangelnde Einordnung von Diefenbachs Theorien in rassistische und nationalistische Geistesströmungen der damaligen Zeit.

Die Jahre nach München, als Diefenbach geradezu hektisch zwischen Wien, Ägypten und Italien hin und her zog, werden viel zu kurz abgehandelt. So würde man gerne wissen, wie es dazu kam, dass an Diefenbachs Todesort Capri ein Personalmuseum mit seinen Werken gegründet wurde. Dort sind symbolistische Kunstwerke, die nach heutigem Geschmack oft kitschig wirken, zu sehen. Damals aber waren sie revolutionär.

Felix Kucher hat eine literarisch gestaltete Biographie über die wichtigsten Jahre dieses Lebensreformers, der weitgehend in Vergessenheit geraten ist, vorgelegt. Es ist das Porträt einer Gegenbewegung, die viel mehr mit dem Heute zu tun hat, als uns vielleicht lieb sein kann. Aus der Geschichte kann man hier lernen, sich wundern oder auch freuen, dass die Menschheit weder damals noch heute wirklich am Ende ist.

Felix Kucher Vegetarianer
Roman.
Wien: Picus, 2022.
232 S.; geb.
ISBN 978-3-7117-2120-4.

Rezension vom 07.06.2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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