In Vati schreibt Monika Helfer also die Geschichte ihrer Familie fort. Wie schon im Vorgänger „Die Bagage“ (2020) hat man es hier mit einer autofiktionalen Geschichte zu tun, deren Wahrheitsgehalt notwendigerweise auf wackeligem Grund steht. Erzählt wird in Vati nicht mehr von der Großmutter, sondern von der nächsten Generation der Bagage, in die der titelgebende Vati einheiratet. Selbst aus ärmlichen Verhältnissen stammend, heiratet er Grete, eines der jüngeren Kinder der Bagage, die Mutter von Monika und ihren Geschwistern. Monika Helfer umkreist das Leben ihres Vaters, versucht sich zu nähern, erzählt von Geborgenheit und Wesensverwandtschaft, aber auch vom Verlassenwerden. Sie erzählt von der „Familiensage“ (S.15), den Geschichten, die unter den Verwandten über den Vater erzählt werden, und den Eindrücken und Erinnerungen der Erzählerin Monika, mal aus kindlicher Perspektive, mal aus der sicheren zeitlichen Distanz der Gegenwart. Die Erinnerung an den Vater ist eine geneigte, keine Abrechnung, wie man sie von vielen Vaterbüchern kennt. Es ist auch kein Versuch, einen Menschen in seiner Ganzheit zu erfassen. Wie schon in „Die Bagage“ lassen sich auch hier immer wieder Leerstellen finden, die mit Imaginationen gefüllt werden, die Erzählerin versetzt sich kurz in andere hinein, schaut für einen Moment aus einer anderen Perspektive auf das Geschehen. Sie bürdet die eigenen Gedanken einer anderen Figur auf, schreibt sie ihr zu – wie etwa der Mutter, diese ist in ihrer häufigen Abwesenheit eine der auffälligsten Leerstellen des Romans: „Meine Mutter blickt ihrem Mann nach und denkt sich, dass sie so wenig von ihm weiß. Und ich weiß so wenig von ihr. Sie wird in der Erinnerung so still, das will ich nicht, das war sie nicht.“ (S.84)
Eine Art literarisches Stillleben – eine Frau mit Wäscheleine aus der Vogelperspektive betrachtet – leitete schon „Die Bagage“ ein. Auch in Vati stößt man immer wieder auf Momentaufnahmen, auf Bilder, die sich im Gedächtnis eingegraben haben – oder von der Fantasie ins Gedächtnis gelangt sind? „Ich bin jemand, der gut beobachten kann, und ich habe dann ein Bild im Kopf, das ich so lange anschaue, bis ich alles Unnötige weglassen kann“, bemerkt Monika Helfer im Ö1 Interview zu „Vati“. (Ö1 Intermezzo, 6.12.2020) So ist auch die Geschichte vom Vater so eine Sammlung von Bildern, Momenten und Geschichten, die vom Vater geblieben sind, soviel die Person – die Figur – bereit war preiszugeben: „Hör auf! (…) Man kann nicht auf einem Foto sehen, was einer denkt!“ (S.10), ruft die kindliche Erzählerin bereits am Anfang. Somit erzählt das Buch auch von der Erkenntnis, dass man von seinen Eltern weniger weiß, als man zu wissen glaubt, dass sie vielleicht auch nicht mit der Vorstellung, die man von ihnen im Kopf hat, übereinstimmen, dass sie mit ihren eigenen Bedürfnissen und Unzulänglichkeiten kämpfen.
Der Vater ist aber auch ein zentraler Bezugspunkt, wenn es um das eigene Schreiben geht, für die Affinität zu Wörtern und Text. Vati ist ein Büchernarr, für den Bücher auch einen Bildungsaufstieg, einen Weg in eine bessere Welt bedeuten. Er ist ausgestattet mit einer „Sprachzerlegsucht“ (S.148), die er auch Monika einprägt und die ihre Texte mitgestaltet:
„Bis heute höre ich ihn in meinem Kopf. Er grätschte mir in Gedanken oft genug in einen Text, wenn ich an der Schreibmaschine saß oder später am Computer, und tut es immer noch, wenn ich mich bemühe, in einer Erzählung eine Szene zu beschreiben. Ich schreibe einen Satz und höre ihn sagen: Aha? Dann definier mir doch einmal!“ (S.147)
Monika Helfer erzählt so in Vati erneut eindringlich und aufwühlend klar in schnörkelloser Sprache von ihrer Geschichte ihrer Familie. Gefiltert durch die Fiktionalisierung der Gattung Roman entsteht ein Porträt des Vaters, das keinen Schuldigen sucht, sondern versucht zu verstehen, warum es gekommen ist, wie es gekommen ist: „Wir alle haben uns sehr bemüht.“ (S.173)