#Prosa

Vaterbuch

Lukas Meschik

// Rezension von Erkan Osmanovic

„Menschen sterben immer um vier Uhr früh.“ Ein Lächeln in England, Kupfermünzen in der Wohnung und ein Baum am Zentralfriedhof. Getrennt und doch verbunden durch den Tod, das Schreiben und den Vergleich. Es ist das Lächeln des Vaters, das Lukas Meschik auf einem alten Urlaubsfoto entdeckt und vergleicht – mit anderen Fotografien, Erinnerungen und dem unumkehrbaren Moment: „Ich sitze in der Hocke neben meinem toten Vater, der am Boden liegt. Er liegt verrenkt am Küchenboden, der kalt ist. Ich hocke in der Vaterwohnung neben dem leblosen Körper und streichle sein kaltes Ohr, das linke, welches mir zugewandt ist.“

Punkte, Buchstaben, Wörter und Absätze kreisen um den Vater. Aber gab es da nur den Vater? Existierten da nicht auch die anderen Leben, die nicht aus dem Vatersein bestanden? Die, die ein Sohn niemals kennenlernen wird können?

„Wir finden sein Leben ohne uns. Ich kenne es bloß aus Erzählungen und Fotoschachteln. Als er mich bekam, war er einige Jahre älter als ich jetzt bin. Es ist befremdlich, mit seinen guten Freunden von damals zu sprechen, denn sie kennen ihn anders als ich, ja – sie kennen einen anderen. Für sie war mein Vater ein Mitstudent, Plauderer, Spaghettikoch. Mein Bruder und ich, wir haben ihn den Freunden entzogen und vereinnahmt, einen neuen Lebensabschnitt eingeläutet.“

Meschik nähert sich der Vielheit seines Vaters an. Da gibt es etwa den Kärntner, der in Wien sein Glück fand; den Sozialdemokraten, der sich ehrenamtlich engagierte oder den Buben vom Land, der durch seine Bücher Herzensfreude entdeckte. Doch lässt sich die eine Existenz scharf von der anderen trennen? Geht nicht vielmehr eines in das andere über?

Meschik belässt es nicht beim bloßen Nachspüren der Biografie. Er bringt sich selbst ins Spiel. Nicht nur die Beziehung zum Vater, sondern auch die zu dessen Tod treibt ihn um: „Manchmal wünschte ich, er hätte es uns viel schwerer gemacht, uns viel mehr abverlangt als das bloße Auffinden seines Körpers. Es hätte ein langer Abschied sein sollen, mit tränenreicher Aussprache und verwelkten Blumen am Fensterbrett des Krankenzimmers.“
Nicht allein der Tod beginnt in Meschiks Kopf, ja im Text zu arbeiten, sondern auch das Alter seines Vaters: „Wie alt ist er geworden? Einundsiebzig. Das ist alt. Einundsiebzig ist jedenfalls nicht besonders jung.“ Nicht so wie der Freundesbruder, der mit einundfünfzig verstarb oder die Patentante einer Freundin, die einundsechzig wurde. Im Vergleich findet man zur Normalität. Mit Hilfe der Gegenüberstellung von Toten bringt Meschik den Verlust des Vaters in eine Ordnung, er gleicht ab, kategorisiert, interpretiert. Und so steht das Vaterbuch ganz im Zeichen zweier Notizen Meschiks: „Jeder Sohn stirbt als sein Vater. Jeder Vater lebt weiter als sein Sohn.“ Diese Worte werden im gesamten Text durchdekliniert. Das Buch wird so nicht nur zur Reflexion über den Vater, sondern auch über das Sein.

Dabei reichert Meschik seinen Text mit feinen Prisen von Humor an. Das Ableben seines Vaters wird mit dem vermeintlichen Untergang der Sozialdemokratie gleichgesetzt: „Mein Vater war der letzte Sozialdemokrat. Sein Tod markiert den Niedergang der Sozialdemokratie in Österreich sowie in Europa, wenn nicht gar auf der ganzen Welt. So viel Einfluss hatte er dann doch.“
Neben den Fotografien und Büchern ist es vor allem der Kalender des Vaters, der Meschik so etwas wie einen Überblick über das Leben des anderen Vaters gibt, es ab- und vergleichbar macht. Die Vita des Vaters wird nicht nur mit den Biografien entfernt Bekannter oder Verwandter, sondern auch mit seiner eigenen verglichen.

Über gewisse Strecken hinweg wird das Vaterbuch so auch zur Aussprache mit dem eigenen Lebensweg. Es ist aber kein Selbstvorwurf, der mitschwingt, wenn über verpasste Chancen oder verlorenes (Liebes)Glück erzählt wird, sondern vielmehr das Bewusstmachen der eigenen Absichten, aber auch der Entscheidungen des Vaters: „Eine weitere Frage des Vaterbuches lautet, ob ich selbst einmal Vater sein werde, sofern ich es überhaupt möchte. Dieser Teil der Vaterfrage ist leicht zu beantworten: Ich möchte durchaus, ich möchte sogar unbedingt, doch es liegt nicht an mir. Es setzt eine glückliche Konstellation voraus, es braucht die richtigen Menschen zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort.“ Dabei widersteht Meschik der Verlockung, sein eigenes Leben detailliert wiederzugeben und bleibt bei Andeutungen, um den Fokus auf den Vater zu belassen – der übrigens im gesamten Buch keinmal namentlich genannt wird.
Dagegen fallen Namen wie Ulla Berkéwicz, Peter Handke, Franz Kafka, David Foster Wallace, Wolfgang Hermann, Karl Ove Knausgård oder Paul Auster. Meschik reiht sie an, skizziert ihre Vater-, Mutter- oder Sohnbücher und fragt sich: Wie schrieb Handke über das Leben seiner Mutter, wie klärte Auster sein Verhältnis zum Vater, wie verhält es sich, wenn der Sohn vor dem Vater stirbt, wie etwa in Hermanns Abschied ohne Ende? Und da ist er wieder, der Vergleich. Bezug- und Differenzierungspunkt des Leidens, der Trauer, des Verlustes.

Zu Beginn der Lektüre überkommt einen der Zweifel. Darf man das? Eintauchen in all die intimen Gedanken, die Familienfotos und die Sätze der Ratlosigkeit. Meschik zeigt mit seinem Vaterbuch, dass man darf, kann und soll. Hier wird das Aufblitzen von Leben in all seinen Formen und Konstellationen aufgefangen und mit Blick auf den Lebensweg des Vaters gezeigt. Aber das Buch als biografischen Bericht einzuordnen, würde viel zu kurz greifen. Es ist Meschiks Sprache, die mit ihrer Klarheit und mit ihrer porösen Direktheit bis in die feine Unterwäsche unseres Bewusstseins dringt, uns mitnimmt in die Wut, Trauer und Verständnislosigkeit eines Melancholikers, eines Schriftstellers und eines Sohnes. Was uns am Ende der Lektüre erwartet? Katharsis? Nein. Dafür aber die Erkenntnis, dass jedes Leben Fragment bleibt.

Lukas Meschik Vaterbuch
Innsbruck: Limbus, 2019.
184 S.; geb.
ISBN 978-3-99039-156-3.

Rezension vom 08.01.2020

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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