#Roman
#Debüt

Vater unser

Angela Lehner

// Rezension von Johanna Lenhart

„Die Eva lügt immer.“ Das ist der Satz, der sich durch Eva Grubers Leben zieht. Sie lügt ihren Psychiater Korb im OWS – „Slang für Otto-Wagner-Spital“ – an, sie lügt, dass sie das Vater unser auswendig kann, sie lügt über den Grund für ihre Einlieferung in die Psychiatrie: „‚Na gut‘, sag ich und seufze, ‚ich hab also eine Kindergartenklasse erschossen. Sie wissen schon‘, sag ich, ‚mit einer Pistole.'“ Dass auch sonst so einiges nicht stimmt mit Eva, wird im Verlauf des Romans immer deutlicher. Es häufen sich die Verhaltensauffälligkeiten, die aber lakonisch, beinahe zynisch, jedenfalls nie sentimental-weinerlich präsentiert werden. Denn mehr als alles andere ist Eva wütend.

Im OWS trifft Eva zufällig auf ihren Bruder Bernhard, der nichts isst. Fürsorglich, beinahe mütterlich will sie sich um ihn kümmern und ist dabei gleichzeitig altklug, eifersüchtig, manipulativ und ab und zu ein bisschen grausam – Eva ist ein Mensch mit vielen Widersprüchen. Immer mehr tritt eine, aus Evas Sicht, problematische Familienkonstellation zu Tage: Die Mutter, eine böse Hexe, die den wehrlosen Bruder vereinnahmt, und der isolierte Vater, dem Eva sich verbunden fühlt, und der die Familie irgendwann verlässt, gemeinsam gefangen in einem dörflich-katholischen Kärnten. Gar nicht gut zu sprechen ist Eva auf den Vater, es formt sich ein Plan in ihrem Kopf:
„Mit der Zeit heilen alle Wunden, sagen sie. Doch sie wissen nichts von den hoffnungslosen Narben. Von Verletzungen, die sich äußerlich vielleicht schließen, aber innen bildet sich ein Geschwür: Jedes Jahr füllt es sich mehr mit Eiter, nur um eines Tages überraschend zu platzen und den ganzen Menschen implodieren zu lassen wie eine Raucherlunge. Unser Geschwür ist der Vater. Der Vater wuchert uns unter der Haut, er dringt uns aus den Poren. Der Vater kriecht uns den Rachen herauf, wenn wir uns verschlucken. […] Ja, es ist Zeit, das Geschwür auszubrennen, es im Keim zu veröden.“
Warum der Vater weg muss, bleibt unklar, es gibt viele Gründe und keine, immer mehr Erinnerungen kommen hoch – aber: Die Eva lügt immer. Ihren Erinnerungen ist nicht zu trauen. Evas Version der Geschehnisse stimmt nur selten mit jener der Menschen um sie herum überein. In ihrer Wahrnehmung verweben sich Vergangenheit und Gegenwart, gehen ineinander über. Bilder von damals überlagern Bilder von heute und umgekehrt und verdecken dabei das, was für Eva nicht aushaltbar ist. Vieles bleibt auch unausgesprochen, wird für den/die LeserIn nur erahnbar durch das verschränken von Gegenwart und Erinnerung.
Aber Eva wehrt sich – nicht nur durch falsche Erinnerungen. Sie ist angriffslustig, aggressiv: „Na also, denke ich, jetzt haben wir endlich ein Level an Aggressivität erreicht, auf dem wir kommunizieren können.“ Evas Wut ist gepaart mit lapidarem Witz voller Situationskomik. Kalauer wechseln mit witzigen, mitunter unerwarteten assoziativen Verbindungen, die morbid und manchmal direkt geschmacklos, aber ob Evas Situation auch seltsam angemessen sind: „Die Geduld hat zwar nur ein Ende, nicht zwei wie die Wurst, aber ich sehe es ganz deutlich, dieses Ende; sehe seinen Wurstzipfel an meiner Nase vorbeisausen und dahinter wartet die Wut.“ Sie beobachtet ihre Umgebung genau, den Schalk stets im Nacken – „das OWS ist in seinem Entertainment-Potenzial kaum zu toppen“. Gehalten in einem abgeklärten, schnoddrigen Tonfall, wird bald klar, dass dieser Zynismus eine weitere Strategie Evas ist, um ihre Umwelt, ihre Erinnerungen und wahrscheinlich auch sich selbst zu ertragen. Lehner vollbringt in diesem beeindruckenden ersten Roman das Kunststück, dem alten, scheinbar abgetragenen Motiv der unglücklichen Familie eine neue, nie aufgesetzt wirkende und sehr einprägsame Stimme zu verleihen.
Bis zum Schluss bleibt offen, wo das Problem liegt, was real ist und was nicht, was richtig erinnert wird, was nicht. Die Momente der Klarheit aber, in denen Eva merkt, dass ihre Weltweltwahrnehmung nicht mit der Realität übereinstimmt, häufen sich. Wenn am Ende schließlich echte Erinnerungen durchbrechen – „als die Dämmerung genau richtig ist, schützt, was geschützt werden muss, zeigt, was gezeigt werden soll“ – ist es zu spät und Eva bleibt nicht das einzige Opfer.

Angela Lehner Vater unser
Roman.
Berlin: Hanser, 2019.
288 S.; geb.
ISBN 978-3-446-26259-1.

 

Rezension vom 01.04.2019

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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