Ebenso die Annäherung der beiden Wortreihengesichter aneinander, die im siebzehnten „ja“ miteinander verschmelzen. Vielleicht ist es auch mehr der Vorgeschmack auf einen Kuss, der Betrachter gewinnt den Eindruck, dass es erst die Nasen sind, die einander berühren. Doch der Abstand zwischen „ja“ und „ja“ ist dazu da, verringert zu werden. Vermutlich.
Jandl war noch am Leben und erfreute sich (hoffentlich!) bester Gesundheit, als der Kölner Autor und Verleger Richard Müller begann, sich für das Gedicht zu interessieren. Im Sinne einer Variation bzw. deren mehrerer. Denn nicht nur im deutschsprachigen Raum wird geküsst und bejaht.
Mit „freundlicher Genehmigung des Luchterhand Literaturverlag“ ging Müller ans Werk und begann, die siebzehn „ja“s zu übersetzen – den Titel allerdings nicht (das wäre auch komplizierter gewesen). Und um dem Projekt weitere Grenzen zu setzen, beschränkte er sich auf die Sprachen, die in Europa gesprochen werden. So kamen 15 Variationen zustande, von Russisch über Französisch, Finnisch, Albanisch und Türkisch bis zu Spanisch etc.
Dazu kommen noch Esperanto und eine „europäische“ Version – die Mixtur der verwendeten Sprachen. Die hat dem ganzen auch seine Grenzen gesetzt: erstens durfte natürlich nicht öfter „ja“, „yes“, „ano“, „kyllä“, „jo“ oder „po“ stehen als genau siebzehnmal, sonst wäre sich das europäische Gedicht nicht ausgegangen. So ist es zu erklären, dass etwa unter den slawischen Sprachen die Ex-Jugoslawiens nicht vertreten sind, ebesowenig Dänisch, Schwedisch oder Estnisch. Europa ist eben doch zu vielfältig.
Und zweitens musste die europäische Version in einer einheitlichen Schrift gedruckt werden, es hätte vermutlich das Gesamtbild gestört, auch „kyrillische Schriftzeichen“ zu verwenden, damit das russische „da“ nicht so armselig aussieht in seiner unpassenden Schreibweise. Das heterogene Europa sträubt sich eben gegen so manch gute Variationsidee. Und auch Reise- und Sprachführer haben offenbar ihre Tücken. Der Autor erklärte nämlich, er habe die ungarische Variante einem solchen entnommen. Das ist natürlich Pech, wenn dort „egen“ gestanden ist statt „igen“.
Das Schöne an dem Buch (das eher ein Heftchen ist – allerdings ein aufwendig und liebevoll gestaltetes) ist trotz seiner kleinen Mängel der Versuch, einer europäischen Vielfalt Rechnung zu tragen. Der Kuss wird zur Sprachbrücke. Dass Richard Müller für sein Vorhaben ausgerechnet ein Gedicht Ernst Jandls ausgewählt hat – oder hat ihn vielleicht, wahrscheinlich! erst die Lektüre und Betrachtung des Gedichts auf seine Idee gebracht? Wie auch immer: die Kombination von Ernst Jandl und einer Sprengung der Sprachgrenzen ist äußerst passend.
Und wie Brancusi eine Generation von Bildhauern beeinflußte, so regt Jandl mit seinen Experimenten, mit seinem vielseitigen und innovativen Schaffen, Kinder und Künstler, Profis und Amateure dazu an, Gedichte zu verfassen. In ganz unterschiedlicher Qualität, mit ganz unterschiedlicher Resonanz. Schon zu seinen Lebzeiten und wohl auch weiterhin. In diesem Sinne ist „variationen zu ernst jandl: ja. der kuss nach brancusi“ auch als Hommage zu lesen, und als solche auch immer noch aktuell.