Das beachtliche Werk- und Autorenregister am Ende des Buches bezeugt die Weitläufigkeit der Unternehmung, der keine geographischen und zeitlichen Grenzen gesetzt sind. Sie führt wie in Magris’Buch über den Habsburgmythos in der österreichischen Literatur durch eine beträchtliche Vielfalt von Erzählungen, Figuren, Biographien und Sätzen, die der Autor mit seinen roten Fäden durchzieht. Allerdings werden in diesem Kompendium – das sich in 37 Beiträgen auch über aktuelle Ereignisse, griechische und mittelalterliche Erkenntnisse mit den Herausforderungen der Moderne auseinandersetzt – die Zusammenhänge lose herbeigeführt. Schreibweisen, Protagonisten, Dramaturgien und biographische Details aus dem kulturellen Feld werden als Gift oder Gegengift für die Gesellschaft exzerpiert und in ihrem Zukunftspotential ausgelotet.
Überzeugt davon, dass zur Zeit eine weltweite Krise den Untergang einer jahrhundertealten Menschheitsepoche herbeiführt, setzt Magris auf die Wirkkraft der modernen Literatur: Sie ist befreit vom Satz des Widerspruchs, stellt einen „sozialen Akt mit antisozialem Kern“ dar und „hat in ihrer eigenen formalen Struktur die Unstimmigkeit der ‚condition humaine‘ auf sich genommen“. Mit ihrer Fähigkeit gleichzeitig zu verzaubern und aufzuklären, sowohl Utopien zu entwerfen als auch Kritik zu erregen enthält sie mannigfaltiges Potential für Erinnerung, Veränderung und eine menschenwürdige Zukunft. Claudio Magris schreibt in seinen Aufsätzen auf eine Stärkung der Wechselwirkungen zwischen Mythos und Kritik, Aufklärung und Zauber hin, die er im OEuvre eines Autors, in der Distanz zwischen Welt und Darstellung, Literatur und Wissenschaft ausmacht.
In den ausführlichen Beiträgen geht er als Anwalt dieser Kräfte vor allem der Poetik kanonisierter Schriftsteller nach. Bei Goethe arbeitet er den Konflikt zwischen der Poesie des Herzens und der Prosa der Welt heraus, bei Hermann Hesse die Kunstfertigkeit, alle Widersprüche in Totalität aufzuheben. Im Schreiben Thomas Manns sind es die unterschiedlichen Zugänge in Essays und Prosa, die den Bruch in dessen Schaffen nachzeichnen lassen. Nichts aber geht ohne Opfer ab. Wie bei ihm die Wendung zur Aussöhnung zwischen bürgerlicher Kultur und Moderne mit poetischen Verlusten einhergehe, so hat in Zeiten revolutionärer Umbrüche eine ganze Gesellschaft für demokratische Zuwächse zu bezahlen. Allerdings lohnt es sich: Mit Wohlwollen wendet sich der Triestiner Gelehrte dem Roman „Dreiundneunzig“ zu, in dem Victor Hugo zeige, dass die jakobinische Schreckensherrschaft „die Errungenschaften von neunundachtzig ausbaut und zugleich zerstört, indem es sie in der Gegenwart negiert und für die Zukunft rettet“.
Andere eingehende Essays sind Themen wie der Grenze, der Apokalypse, sowie Fragen wie der Vereinbarkeit von Staat und Literatur gewidmet oder stellen stilistische, nationale Kategorisierungsversuche dar. Gekonnt arbeitet der Autor Literatur als Korrektiv gängiger Wahrnehmung heraus, indem er auf die Ausnahme, die Gegenseite und die vergessene Einzelheit fokussiert. Insbesondere dort wo sich die Texte gegen ideologische Vereinnahmung sträuben, ortet Magris Erkenntnisgewinne, die er stets für die Gegenwart fruchtbar zu machen sucht. Viele seiner Aufsätze folgen einem steten Wechsel der Perspektive und gehen auf Gegenkräfte und Abweichungen ein. So lotet er Verbindungen aus zwischen dem Zauber und der Ernüchterung, dem Stil der Väter und der Söhne, dem Lehrer und dem Schummeln, der kleinen provinziellen Begebenheit und dem Universellen. Die Zuteilungslust wird durch die kontinuierliche Infragestellung erträglich gemacht, indem Magris zwar Grundwerte positioniert, meist aber auch den Gegenwerten nachgeht.
Konsequent hält auch der Essayist an der Grenze zum Gelobten Land an, an jenem Punkt, den die modernen Texte nicht überschreiten. Seine Auseinandersetzung gilt dem Weg dahin, wobei er gewinnbringend weniger den Spuren der Autoren folgt, die oft zu Gefallenen ihrer Kunst werden, sondern der Verführungskraft ihrer Figuren: allen voran Don Quijote, Antigone oder dem Taugenichts von Eichendorff, die sich der „klebrigen Macht der Gesellschaft“ widersetzen können. Sie sind die Helden, die Magris wie Landstreicher durch die Texte schickt und die die Aufmerksamkeit der Leser bündeln. Dort wo sie fehlen, wird der Spaziergang leicht zum Lehrausgang, das Buch zu einem Begleiter im 3. Lebensabschnitt und provoziert bei der Lektüre jene Oppositionshaltung, die Claudio Magris bei den literarischen Streunern so leidenschaftlich herausgearbeitet hat.