#Roman

Untot, du geteilte Welt

Ines Birkhan

// Rezension von Gerald Lind

Ines Birkhans Untot, du geteilte Welt ist ein unkonventioneller, gegen den Strich gebürsteter Roman, der das Massensterben afrikanischer Schutzsuchender im Mittelmeer nicht etwa mit größtmöglichem Realismus, sondern mithilfe surrealer Momente und fantastischer Metaphorik erzählt. Einzig an Profitmaximierung und Machtvergrößerung interessierte Konzern- und Bankengottheiten herrschen über eine in Gewinner und Verlierer „geteilte Welt“ und bereichern sich am von ihnen verursachten Elend. Nur wenigen gelingt es, durch die Maschen des (System)Netzes zu schlüpfen und den Überwachungsregimen der Kapitalgottheiten Widerstand zu leisten.

Die afrikanischen Geschwister Nati und Kor gehören zu dieser Minderheit, weil sie über außergewöhnliche, „übermenschliche“ Fähigkeiten verfügen: Die beiden sind in einer unterirdischen Menschenversuchsstation (der „Trichtergemeinde“) aufgewachsen und können sich unter anderem unsichtbar machen. Letztlich bleibt aber auch ihnen nur die Rolle ohnmächtiger Zuschauer eines Spektakels, das als postmoralische Gladiatorenshow der Kapitalgötter und -göttinnen bezeichnet und als zugespitztes Sinnbild realer ökonomischer Praktiken gelesen werden kann.

Es ist klar, dass der von Birkhan gewählte Zugang ein gewisses Risiko birgt. Ein Thema wie das Massensterben im Mittelmeer scheint wenig geeignet für einen das Faktische, außerliterarisch Reale auf allen Ebenen transzendierenden Roman. Zu trostlos ist die Situation in den afrikanischen Flüchtlingslagern, zu hoffnungs- und perspektivlos jene, die sich auf die Boote begeben, zu unmenschlich der Umgang mit den Geflüchteten in Europa, als dass nicht die literarische Imagination vom Gewicht zigtausender Toter auf den Boden von Aktualität und Authentizität zurückgedrückt würde. Kann, ja darf nicht, könnte man fragen, aus dem tragischen Geschehen erst dann ein Roman werden, der mit allen literarisch-ästhetischen Freiheiten gestaltet werden kann, wenn kein Schiff mit Schutzsuchenden mehr kentert, kein Boot mehr sinkt, kein Mensch mehr ertrinkt? Zumindest im Fall von „Untot, du geteilte Welt“ kann diese Frage mit Nein beantwortet werden. Der Text ist ein eindrücklicher Beleg dafür, dass gerade ein nicht auf Selbstrestriktion basierender Umgang mit den zur Verfügung stehenden literarischen Mitteln eine schärfer konturierte Darstellung erlaubt als konventionellere, „realistischere“ Zugänge.

Dies hat unter anderem damit zu tun, dass Birkhan die surrealen Elemente keinesfalls zur Unterhaltung verwendet und diese auch nicht von der Wirklichkeit entkoppelt, wie das in Genreliteratur (Fantasy, Mystery) der Fall ist. Vielmehr wird gerade in der scheinbaren Übersteigerung des real für möglich Gehaltenen das unvorstellbar Reale fassbar gemacht. Was die Konzerne und Banken tatsächlich antreibt, wird in Birkhans metaphorischer Annäherung deutlicher als in einer hyperrealistischen Beschreibung von Managementsitzungen und Lobbyingaktivitäten. Äußerlich über die allvertrauten Markenlogos und Maskottchen sofort identifizierbar (das Muschelwesen Shell, der sechsbeinige, Feuer speiende Hund Eni), erscheinen Konzern- und Bankengöttinnen und -götter als Freud’sches Es des globalen Raubtierkapitalismus. Einzig dem Trieb nach Vermehrung, Vergrößerung und Konkurrenzvernichtung folgend, verteilen sie nach der (wörtlich zu nehmenden) „Zerschlagung“ des Gegners die Beute unter sich: „Sämtliche Gliedmaßen, die tausend Standorte in der globalisierten Welt, müssen vom Corpus abgetrennt, sodann die Organe, die verschiedenen Organisationsstrukturen ausgeweidet sein, bevor das Gehirn als höchste Steuerungszentrale vergeben wird.“ (130) Der surreale Zugang ermöglicht aber auch eine von falscher Authentizität freie Darstellung der Stimmen der Opfer. Wenn Nati in das Meer hinabtaucht, dann vernimmt sie aus von der Strömung in Küstennähe gespülten Knochen die im Mittelmeer ertrunkenen Schutzsuchenden, die ohne Bestattung und Grabstätte zu ruhelosen Untoten geworden sind: „Dunkles, sonnendurchflutetes, trübes oder klares Wasser – seitem wir alles, was uns einst zusammenhielt, geopfert haben, stellen wir keine Ansprüche mehr an die Zukunft.“ (63)

Untot, du geteilte Welt ist ein Roman, der klar zwischen Opfern (Flüchtende, Ausgegrenzte) und Tätern (Ausbeutende, Grenzbauer und -wächter) unterscheidet. Äußeres Tun und innere Überzeugung der Figuren stimmen auf drastische Weise überein. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der spanische Zuständige für das Grenzüberwachungssystem Eurosur schmückt sein Büro mit Bildern berühmter Grenzzäune und masturbiert nach einer Besprechung vor Erregung über die Entdeckung einer Lücke im Abschottungssystem. Grauzonen der Ungewissheit, Unsicherheit oder Unentschiedenheit gibt es in der – natürlich intentional so gezeichneten – schwarz-weißen Romanwelt kaum. Rigoroser Kapitalismuskritik positiv gegenüberstehende Lesende können während der ganzen Lektüre zustimmend nicken, über die Bösen den Kopf schütteln und sich mit den Guten identifizieren. Vielleicht könnte eine offensive Störung derlei selbstgefälliger Selbstgewissheit mehr bewirken als all die (sicherlich berechtigte) Kritik am Turbokapitalismus, dessen Vertreterinnen und Vertreter diesen Roman niemals lesen werden – auch wenn er eigentlich Pflichtlektüre in jedem Manager-Seminar und MBA-Studiengang sein müsste. Andererseits liegt aber gerade in der stringenten Haltung und eindeutigen Positionierung die besondere Qualität von Untot, du geteilte Welt. Womöglich hätte der Roman durch eine stärkere Perspektivierung ambivalenter Grauzonen nur die hundertste eurozentristische Mittelschichtsnabelschau geliefert, dafür aber genau jene monumentale, geradezu mythische Wucht und Stärke eingebüßt, die ihn so reizvoll wie außergewöhnlich macht.

Ines Birkhan Untot, du geteilte Welt
Roman.
Weitra: Bibliothek der Provinz, 2017.
152 S.; brosch.
ISBN 978-3-99028-680-7.

Rezension vom 23.01.2018

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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