Nicht ausschließlich, aber doch auch als Gegenpol zur Beziehung mit Emil hat die Ich-Erzählerin eine Affäre mit dem Familienvater Leo begonnen. Dieser spricht sie auf eine andere Weise an als Emil, und damit spricht er auch anderes in ihr an. Was mit ihm zählt, ist ein von Erwartungshaltungen freier Austausch, aber auch körperliches Erfahren und Begehren im Jetzt. Überhaupt sind Begegnungen wie jene mit Leo für sie nicht auf einzelne Personen oder bestimmte Beziehungsformen beschränkt. Anziehung – geschieht sie im Augenblick oder hat sie Dauer – wird von ihr nicht als Infragestellung bestehender Bindungen wahrgenommen, sondern als Möglichkeit sich selbst immer wieder neu und anders zu erfahren. Gleichzeitig weiß sie aber auch, dass sie die an sie gestellten Erwartungen nicht erfüllen kann. Aus Emils Perspektive ist sie untreu, wenn sie sich selbst treu ist. Als schließlich der schwelende Konflikt mit Emil eskaliert und auch Leo nicht für sie da ist, steigt sie aus ihrem bisherigen Leben aus. Sie setzt sich in den Zug und fährt los, ohne klares Ziel, einfach nur Richtung Süden.
Katharina Schaller verfügt über eine sehr genaue Sprache für die detailreiche Selbst-Wahrnehmung ihrer Ich-Erzählerin. Ihr Roman soll aber dennoch nicht Denk- und Verhaltensmuster offen legen oder gar letztgültig entschlüsseln. Vielmehr geht es in Unterwasserflimmern um ein schreibendes Herantasten an für die Erzählerin (und vielleicht sogar eine ganze Generation) wesentliche Ambivalenzerfahrungen von Unauflösbarkeit und Unabschließbarkeit: „Niemand weiß von Leo. Und warum auch? Ich könnte mich nicht erklären. Ich würde uns nicht zu jemand anderes Geheimnis machen wollen. Würde nicht beschreiben wollen, wieso ich ihn treffe, wieso ich ihn ficke, wieso wir miteinander reden, wie wir es tun. Weiter denken. Noch länger. Geht das überhaupt?“ (72)
Unterwasserflimmern ist kein Roman, der es notwendig hat, über oberflächliche Sympathiezuschreibungen oder Identifikationsangebote an die Lesenden sein Potential zur Unterminierung idyllisierender Liebes- und Beziehungsnormative zu schärfen. Die literarische Qualität des Textes entsteht gerade im bewussten Weglassen von wie auch immer gearteten Wertzuschreibungen und ästhetischen Überhöhungen, was besonders bei der so diffizil gearbeiteten wie unverstellt wirkenden Darstellung von Körperlichkeit und Sexualität deutlich wird. Mit einem Happy End ist bei so einem Text natürlich nicht zu rechnen, aber dafür umso mehr damit, dass sich – Spoileralarm – am Ende auch die Eindeutigkeit dessen auflöst, was denn eigentlich als Happy End zu bezeichnen wäre. Absolute Lektüreempfehlung.