#Prosa

Unterm Faulbaum

Udo Kawasser

// Rezension von Walter Wagner

Aufzeichnungen aus der Au.

Zwischen 2008 und 2011 führt Udo Kawasser unter einem Faulbaum in der Lobau ein Journal, in dem er in lyrischer und zugleich fragmentarischer Form alltägliche Naturbeobachtungen notiert. Hingebungsvoll widmet sich der Betrachter meist botanischen oder zoologischen Phänomen, die vor seinem Auge auftauchen und dem Betrachter neue Erfahrungsräume erschließen.

Was sich dem zivilisatorisch verbildeten Durchschnittsindividuum a priori als ereignislose und stumme Natur präsentiert, wird von dem im Modus der Kontemplation verharrenden Autor in einen literarischen Text verwandelt, der hierzulande zunächst keinem spezifischen Erwartungshorizont zu entsprechen scheint. Es handelt sich bei den Aufzeichnungen aus der Au, wie der Untertitel dieser Publikation treffend lautet, nämlich um das vor allem im englischsprachigen Raum beheimatete ‚Nature Writing‘, eine Form der nichtfiktionalen Naturprosa, die von heimischen Dichtern kaum praktiziert wird und noch darauf wartet, entdeckt zu werden.

Kawasser, der sich bereits als Lyriker hervorgetan hat, leistet mit diesem Büchlein gewissermaßen Pionierarbeit und knüpft damit an eine Gattungstradition an, die mit H. D. Thoreaus Walden einen ihrer Gründungstexte geschaffen hat. Gemäß der poetologischen Bandbreite dieses Genres changiert auch Unterm Faulbaum zwischen Tagebuch, Autobiografie, Prosagedicht und Essay und erweitert so den kreativen Spielraum des Verfassers. Insofern erweisen sich die fachsprachlich fundierten, kenntnisreichen Ausführungen über einen Faulbaum in den Wiener Donau-Auen, den Kawasser regelmäßig aufsucht, in Wahrheit als Ausgangspunkt und Anlass vielfältiger Reflexionen, die das Verhältnis des literarischen Ichs zu sich selbst und zur Welt beleuchten. Dabei werden dem Leser oft Kommentare an die Hand gegeben, die Kawassers Haltung zum Schreiben an sich, aber auch sein besonderes Verhältnis zu seinem Beobachtungsposten unter dem Faulbaum schildern, wo tätige Muße die ideale Voraussetzung für den Akt des Schreibens bildet. Daher scheint die rhetorische Frage durchaus berechtigt: „Ein Denk- und Schreibraum, soweit das Hören, Sehen, Riechen, Fühlen reicht?“

Die natürliche Umwelt bildet also die mimetische Referenz des Nature Writing, das als zentrales Anliegen das dynamische Verhältnis zwischen Mensch und Natur in den Blick nimmt. Dabei tritt das sinnlich und mental offene Subjekt in einen Dialog mit seiner natürlichen Umwelt und verwandelt sich in einen Resonanzkörper, dessen Schwingungen der Autor in seinem Buch registriert. Auch Kawasser macht die Erfahrung der paradoxen Ich-Reduktion und gleichzeitigen Ich-Ausdehnung, wenn er schreibt: „Wo Stille sich breit macht, da wächst auch etwas anderes: Durchlässigkeit. Hellwach das Bewusstsein, das sich hier an der Grenze von Innen und Außen aufspannt. Nein, ich bin nicht für mich, das ICH BIN ist ein Durchgangsort.“

Derartige philosophisch-spirituelle Exkurse ergeben sich im Verlauf der intensiv durchlebten Stunden des so genannten Nichtstuns unter dem Faulbaum wie von selbst. Im Zuge dieser Begegnungen mit der Natur stellt sich heraus, dass der Rückzug aus der Gesellschaft im Zeitalter sakrosankter Teamarbeit auf das Individuum eine ebenso beglückende wie heilsame Wirkung ausübt, die auch Kawasser nicht missen mag und die seinen Lebensentwurf bis in den Bereich seiner bisweilen schwierigen Beziehungen prägt. Luzid bemerkt er daher: „Das Privileg anderen Menschen aus dem Weg gehen zu können, habe ich mir bis heute zu bewahren versucht.“ Die Gefahr, asozial zu erscheinen, muss freilich relativiert werden, denn Kawassers angeblicher Eskapismus ist im Grunde nichts anderes als die notwendige Einsamkeit des Schriftstellers und Künstlers, ohne die eine per se dialogisch verfasste Kunst überhaupt nicht entstehen könnte.

Der Gang in die Au gestaltet sich demnach wie bei jedem anderen Autor auch bei Kawasser als Rückkehr zum Schreibtisch, wo ihn ein „Gefühl gesteigerter Wirklichkeitserfahrung“ zu sich selbst, aber auch zu seinen Mitmenschen zurückführt. In diesen Augenblicken poetischer Spannung ruft Kawasser – und auch das gilt als genretypisches Merkmal – seine literarischen Gewährsmännner wie Camus, Rousseau, Valéry usw. auf, um sein Schreiben intertextuell aufzuladen und damit die Naturbetrachtung in eine Meditation über die Literatur zu überführen. Die tangiblen Früchte der äußeren Natur werden solcherart geschickt mit literarischen Lesefrüchten angereichert, womit einmal mehr die in der Moderne auf die Spitze getriebene Kultur-Natur-Dichotomie virtuos unterlaufen wird.

Unterm Faulbaum fungiert in dieser Hinsicht nicht nur als literarisches Kunstwerk, sondern lädt die Leserschaft dazu ein, sich dann und wann dem allgegenwärtigen Zugriff des technologischen Alltags zu entziehen und wie der Autor in die natürliche Umgebung einzutauchen, um dabei eine vielfach vergessene Form des Menschseins wiederzuentdecken: „Unter der Silberpappel im weißen Flies der Blätter versinken, ohne eine Sprache zu finden für diese Müdigkeit, die mir mit Ameisenbeinen über die Haut kriecht.“

Kawasser gibt sich in dieser Passage freilich allzu bescheiden, denn tatsächlich gelingt es ihm, das angebliche Schweigen der Natur in eine lyrisch höchst anspruchsvolle Prosa zu übersetzen, deren Präzision und stilistische Vielfalt gleichermaßen beeindrucken. Bedauerlicherweise erreichen seine essayistischen Exkurse – insbesondere, wenn er sich wie am Endes des Bandes auf metaphysisches Terrain begibt – nicht immer dieses hohe Niveau. Was bleibt, ist ein anmutiges Stück Literatur für the happy few, das nicht nur am Altarm der Donau seine Leser überzeugen wird.

Udo Kawasser Unterm Faulbaum
Journal.
Wien: Sonderzahl, 2016.
96 S.; geb.
ISBN 978-3-85449-460-7.

Rezension vom 02.10.2016

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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