#Lyrik

Unter Sternen

Melitta Urbancic

// Rezension von Marcus Neuert

Die Lyrikerin Melitta Urbancic (1902-1984) ist hierzulande bisher nur einem relativ kleinen Kreis von Forschenden auf dem Gebiet der Exilliteratur bekannt geworden. Das könnte sich ändern, denn die Philologin Agneta Hauber hat mit einer soeben im Verlag Peter Lang erschienen Dissertation über die Autorin offenbar einen Stein ins Rollen gebracht. Zusammen mit der österreichischen Lyrikerin und Literaturkritikerin Astrid Nischkauer besorgte sie jüngst auch die Herausgabe eines Querschnitts aus dem Schaffen von Melitta Urbancic beim Verlag der Theodor-Kramer-Gesellschaft in Wien. Hier ist man bestrebt, auch weniger bekannte Stimmen der Exilliteratur einem breiteren Publikum nahezubringen, wofür im Falle Melitta Urbancics mit dem vorliegenden Band Unter Sternen nun ein Grundstein gelegt ist.

Melitta Urbancic, geborene Grünbaum, entstammte einer jüdisch-liberalen, bürgerlichen Familie aus Wien, die ihr standesgemäß eine umfangreiche Bildung angedeihen ließ. Früh kam sie in Kontakt mit Literatur und Musik, entdeckte vor allem Rilke für sich, später in ihrer Heidelberger Studienzeit durch die Vermittlung von Friedrich Gundolf u.a. auch Stefan George. Gundolf und Jaspers, bei denen die junge Frau Germanistik und Philosophie studierte, blieb sie lebenslang freundschaftlich auf menschlicher, philosophischer und literarischer Ebene verbunden. Nach ihrer Heirat 1930 mit Victor Urbancic und Stationen in Wien, Mainz und Graz floh sie 1938, nachdem sich der deutsche NS-Staat Österreich einverleibt hatte, mit ihren Kindern nach Island, wo ihr Ehemann, Komponist und Dirigent, eine Anstellung gefunden hatte.

Auch in Island war Melitta Urbancic zunächst, wie Agneta Hauber in ihrem Nachwort schreibt, „als Jüdin nicht willkommen. Ihr drohte die Ausweisung.“ Nach einer entsprechenden Entscheidung des isländischen Parlaments durfte sie jedoch bleiben. Island wurde das Land ihres restlichen Lebens; sie unterrichtete dort Deutsch, Englisch und Französisch und betätigte sich auch als Bildhauerin. Ihre Tochter Sybil beschreibt die Mutter im Rückblick als „zeitlebens […] leidenschaftliche, unbequeme Verfechterin der Rechte von Minderheiten und Unterdrückten“ und attestiert ihr „ein außergewöhnliches Maß an Zivilcourage […], allein ihrem eigenen Gewissen verpflichtet.“

Das Gedicht Ehre aus dem Jahr 1938 etwa zeigt Melitta Urbancic denn auch weniger als explizit politische denn eher als menschlich-philosophisch argumentierende Dichterin in einem Text, der wohl auf seine Weise nie aufhören wird aktuell zu sein; er fordert dazu auf, als Subjekt von Ausgrenzung stets mit erhobenem Haupt zu gehen, das zutiefst Trennende zwischen dem Pöbel und seinem Opfer durch Selbstachtung zu sublimieren, die Anfeindung durch eben diese Feinde als Auszeichnung zu verstehen: „… erstarkt im Stolze : HEUT VERFOLGT ZU SEIN !“

Melitta Urbancic verfasste in großer Zahl sehr formstrenge Sonette und blieb auch in ihren anderen lyrischen Hervorbringungen Strophe, Reim und vor allem dem Rhythmus von Sprache lebenslang verpflichtet. Ein im Gedichtband abgedrucktes Faksimile „Überlegungen zum Sonett“ von 1967 zeugt hiervon eindrucksvoll; Urbancic beklagt, Sonette seien „in formfeindlichen Zeiten wie unserer unmodern“, jedoch „mit ihren formalen Forderungen in Reimen und Versen“ in der Lage, „auch gedanklich vieles in die Sprache [zu zwingen], das in billigeren Formen ungesagt und auch ungedacht bliebe !“

Warum verdienen diese Texte gerade in unserer Zeit entdeckt zu werden? Die allermeisten von Urbancics Gedichten sind zu ihren Lebzeiten unveröffentlicht geblieben. Vor allem ihr Opus Magnum Ferne Nähe zeugt davon, dass sie oft als persönliche Auseinandersetzung mit dem Schicksal von Flucht und Vertreibung entstanden. Nicht selten auch dem Freundeskreis in zahlreichen Briefen zugedacht, spiegeln sie den wachen und kritischen, vor allem aber auch vertrauensvollen Geist der Autorin wider. Dieses Vertrauen resultiert weniger aus einer allzu euphorischen Einschätzung des grundsätzlichen Gut-Seins des Menschen als vielmehr aus einem unerschütterlichen Glauben an ein göttliches Heil, welches das Ich immer wieder befähigt, sein wie auch immer beschaffenes Geschick auf sich zu nehmen. Das Zerschmetterte, Zerscherbte der eigenen Existenz ist immer wieder für ein Weiterleben im Jetzt und Hier fruchtbar zu machen: Melitta Urbancic gestattet sich keine Hoffnungslosigkeit. Zwar spielen hier ihre persönliche Disziplin und eine beständige Übung in Gleichmut eine nicht zu vernachlässigende Rolle, doch es ist wohl vor allem eine Form von spiritueller Führung, die sie für sich erkennt und als immer wieder ins Leben leitend akzeptiert.

Auffallend oft scheinen Motive wie Pfeil, Sehne und Bogen in diesen Gedichten auf, Bildsprache für das Erkennen des Momentes, des richtigem Augenblicks: der Kairos der Antike, die Gottwerdung des günstigen Entscheidungszeitpunktes. In Verbindung mit einer weiteren häufigen Metapher, derjenigen des Sterns, welcher für Melitta Urbancic Sehnsuchtspunkt und Symbol für göttliche Wegweisung gleichermaßen ist, zeigt sich der Impetus dieser Texte, deren lyrisches Ich zwischen persönlichem Tun und geistlichem Gehaltensein oszilliert und in dieser sich ständig erneuernden Balance seine Erfüllung findet – allen Widrigkeiten, Widerwärtigkeiten bis hin zum Erlebnis des Tödlichen zum Trotz. In dieser Inbrunst ist sie vielleicht sogar zeitgenössischen österreichischen Autoren wie Richard Billinger näher als den von ihr so verehrten, gleichsam dichotomisch aufgespreizten Dichterpolen George (dessen „disziplinierte Lebensführung […] ihrem Wesen entgegenkam“, wie Agneta Hauber in ihrem Nachwort anmerkt) und dem unsteten Wanderer Rilke, der für Urbancic zeitlebens Quelle der Inspiration blieb (und aus dessen frühen Gedichten manchmal ein Hauch herüber zu klingen scheint in ihren Versen). Doch ist sie keinem der beiden eine Epigonin im eigentlichen Sinn. Ihr persönlicher Stil entpuppt sich nicht selten als emphatisch, auch und gerade, wenn sie ihr karges isländisches Exil thematisiert:

„[…] Wie, heisses Herz, nur südlichere Säfte / gewohnt zu trinken, satt von Flammenfarben, / sollst du hier leben nun im grauen Darben ? // Doch in der Tiefe sammelnd neue Kräfte, / blüht mir im Lied aus roten Lavabrocken / erstarrte Glut statt blauer Sehnsuchtsglocken !“

Den immer wieder aufgegriffenen Verlust der Heimat versucht sie als nur äußerlich und damit im Gemüt sublimierbar zu verstehen:

„[…] Solang die Seele will ihr Heil bewahren, / kann ihr kein Unheil jemals widerfahren : / Auch hier winkt mir die Heimat – unverloren !“

Vielleicht liegt gerade hierin der besondere Reiz dieser Gedichte: der schleichende Verlust unserer unverbrüchlich geglaubten Sicherheiten fordert von uns auch heute wieder Richtungsentscheidungen in ungewohntem Ausmaß und mit großer Dringlichkeit; es mag sein, dass diese zu unterschiedlichen Zeiten jeweils grundverschieden sind in Anlass und Wirkmächtigkeit, doch Urbancics kraftvolles Sichaufbäumen für das gegebene und anzunehmende Leben entfaltet ein Gefühl des Trostes und wirkt auf eine vielleicht ein wenig altmodisch-aufrechte Art und Weise vorbildhaft.

Unter Sternen. Gedichtauswahl.
Herausgegeben von Astrid Nischkauer und Agneta Hauber.
Wien: Verlag der Theodor-Kramer-Gesellschaft, 2022.
126 Seiten, broschiert.
ISBN 978-3-903522-04-6.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 21.11.2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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